Ratsmädelgeschichten. Helene Böhlau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helene Böhlau
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066113971
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etwas darüber zu reden, sprangen sie beide wieder von ihrem Fensterbrett; Röse nahm ein blau-getupftes Tragkörbchen, das ihrer beider Eigentum war und hinter dem Ofen stand, und sie liefen stumm und eilig einmütig miteinander die Treppe hinab und sammelten unten die Zuckerfigürchen. Da war schon von den Herrlichkeiten manches von vorüberziehenden Soldaten und Pferden zerstampft und zertreten worden, aber wie Röse und Marie über dem Sammeln waren, half ihnen ein freundlicher Franzose, ein Soldat, dabei.

      Sie hatten solche und andere ganz unglaubliche Dinge erlebt. Ein alter Kosack, der bei ihnen im Quartier lag und dem diese Mädchen gut gefielen, wollte ihnen einmal einen Spaß machen und hatte sie in seinem zweirädrigen Wagen, den er „Kibitka“ nannte, mit über Land genommen; und das war eine Fahrt gewesen, die sie ihr Lebtag nicht vergessen konnten. Das ging wie der Wind, wie der Blitz!

      Der alte Kosack in seinem Pelzrocke hieb auf die Pferde ein, daß sie nur so rasten und daß die Funken sprühten; — so fahren die Kosacken! — und der zweirädrige Wagen stieß und flog, und die Mädchen klammerten sich an dem schmalen Holzsitze fest, und der Atem verging ihnen, so schnitt ihnen der Wind bei der Schnelligkeit, mit der sie fuhren, an den Gesichtern hin. Der alte Kosack lachte und sagte immer: „Nix, nix!“ und fuhr weiter und weiter, und die Bäume und Felder schwirrten nur so an ihnen vorüber, so schnell ging es, wie noch kein Mensch in Deutschland je gefahren war. Und als der Kosack sie endlich vor ihrem Hause abgesetzt hatte, da zitterten sie noch.

      Dann einmal hatten ihre Brüder von einem anderen Kosacken ein Pferd um achtzehn Pfennige gekauft, das hatte der durstige Kerl los werden wollen, da er es wegen Futtermangels doch nicht behalten konnte. Wie die Brüder aber das Pferd mit heimbrachten, da gab es Zank bei Rats, und die armen Buben mußten ihren Gaul mit schwerem Herzen wieder fortschaffen. Aber so darunter und darüber ging es dazumal her, daß die Schuljungen für ein paar Pfennige zu einem Pferde kommen konnten, für soviel, wie sie jetzt wohl für ein Dutzend Schußkugeln anwenden.

      Mit dem Essen und Trinken hingegen war es schlimmer bestellt, das nahm ihnen die Einquartierung vor der Nase weg. — Es gab, wenn die Soldaten im Hause lagen und mit am Tische aßen, eine braune Mehlbrühe, in die waren Fleischstücke und Brotstücke hineingeschnitten, die sich einander an Größe gleichkamen, aber es wurde damit wie folgt gehalten: die Fleischstücke für die Soldaten, die Brotstücke für Eltern und Kinder. — Das waren böse Zeiten! Die Mutter hatte den Kopf voller Sorgen und hatte Not und immer Not, das Essen zu schaffen, und wußte nicht, wo sie die Kleider hernehmen sollte; denn mit dem Gelde ging es knapp zu. Sie konnte auch nicht immer nach den Kindern sehen, wie sie es sonst wohl gethan hätte und konnte nicht nachkommen, ob es mit ihnen in der Schule gut stände.

      So war es geschehen, daß die Mädchen ein bißchen wild aufwuchsen. Auch als die Zeiten wieder ruhiger wurden, blieben sie noch immer ein paar rechte Rangen, schwänzten die Stunden, so oft es sich thun ließ; wurden von dem Lehrer ihrer Faulheit wegen tüchtig abgestraft, machten sich aber wenig daraus; spielten in einem Wäldchen, das das Schänzchen heißt und nahe bei der Stadt liegt, die lustigsten Spiele mit allerlei Kindervolk; schrieen und lärmten und hatten nichts im Kopf, als wie sie ihre Tage recht munter hinbringen könnten. In dem Wäldchen war es eine Lust, wie sie lebten. Da gab es Gruben und Höhlen, dichtes Buschwerk und tausend Verstecke; dort hatten sie sich eingenistet und spielten Räuber nach Herzenslust, hatten dort ihre Schlösser und Burgen. Da gab es Krieg und Verteidigung, es wurde gefangen genommen und befreit, und Röse und Marie waren immer dabei. Eine Schande aber blieb es, wie wenig sie lernten, und daß sie sich nicht die geringste Sorge um ihre Faulheit machten.

      Da wohnte in der Wünschengasse eine Jüdin, welche die Kinder unter dem Namen die dicke Nanni kannten. Sie hieß Nanni Veit und war eine ältliche Person, die sich um alles kümmerte, was die Nachbarn thaten. Sie war im ganzen gutmütig, nur etwas neugierig und schwatzhaft und stand in dem Rufe, reich und geizig zu sein. Die war auf die Ratsmädchen nicht gut zu sprechen; denn sie kannte auch Mariens und Rösens Lehrer. Und als sie wieder einmal eines schönen Tages ganz besonders ihren Aerger über die Mädchen gehabt hatte, da war sie zu der Frau Rat hinübergegangen. Die Frau Rat hatte die Jungfer in die gute Stube geführt, und Röse und Marie, denen es aus guten Gründen gar nicht recht wohl ums Herz war, daß die dicke Nanni bei der Mutter saß, lauschten an der Thüre und stießen sich gegenseitig vom Schlüsselloch weg. Was sie aber erlauschten, das waren schlimme Dinge.

      Die dicke Nanni sagte, nachdem sie ihre Meinung über das Wetter ausgesprochen und bemerkt hatte, daß den Fruchtknospen nach heuer wenig Obst zu erwarten sei, „ja, Frau Rat, das ist nun so, und wenn Ihr es nicht übelnehmen wollt, da möchte ich Euch mit meines Herzens Meinung kommen. Da Ihr es nicht zu wissen scheint, daß Röse und Marie die Schule schwänzen, so wäre es gut, dächte ich, wenn Ihr es wüßtet, und deshalb habe ich mich heraufgemacht. — Ihr stellt Euch das nicht so vor, aber der Lehrer weiß sich nicht mehr zu helfen; da ist kein Auskommen. Ich sage Euch, Frau Rat“ — so ging es fort. Die Jungfer redete der guten Nachbarin zu, ein strengeres Regiment zu führen. „Die Mädchens würden nun zu groß.“

      Bald mußten Röse und Marie vom Schlüsselloche weghuschen, denn der Vater kam die Treppe herauf und ging ernst und gemessen, wie es seine Art war, an den beiden vorüber, die sich ganz harmlos an das Fenster gestellt hatten, und ging auch in das Zimmer hinein. Nun wagten sie nicht wieder, zum Lauschen an die Thüre zu schleichen.

      Sie gingen in ihr Kämmerchen, das eine Treppe höher lag, setzten sich miteinander auf Rösens Bett und kamen überein, daß es die dicke Nanni unten durchaus nichts anginge, wie sie es mit der Schule hielten, und daß es von ihr heimtückisch wäre, sie in eine so dumme Verlegenheit zu bringen. „So eine alte Klatsche!“ sagte Röse. Da hörten sie unten die Thüre gehen, faßten sich ein Herz und schlichen sachte oben die Treppe herab, so weit nur, um zu hören, was es gäbe, ohne daß man sie bemerken könnte. Und sie hörten, wie die Mutter mit ihrer eigentümlich weichen Stimme sagte, und jetzt klang die Stimme leise zitternd: „Ich danke Euch noch einmal, Jungfer Veit. Ihr meint es gut, und ich nehme es auch gut auf. Es sind böse Zeiten gewesen, und man hat noch schwer daran zu tragen. Ihr habt mir einen guten Rat mit der Concordia Loisette gegeben, ich werde es mir überlegen.“

      „Was denn?“ sagte Röse zu Marien. „Was wollen sie denn mit der Jungfer Loisette?“ „Gar nichts!“ flüsterte Marie und atmete tief auf. Noch nie war die Stimme der Mutter Rösen und Marien so zu Herzen gedrungen, wie eben jetzt. Sie hatte geweint!

      „Daran ist die alte Nanni schuld!“ dachte Marie und bog sich etwas über das Geländer. Da hörte sie, wie die Nanni sagte, etwas schnarrend, wie es ihre Art war: „Da habe ich heute eine Eile, kaum daß ich mir den Weg zu Euch, Frau Rat, absparen konnte; muß ich jetzt noch mit meiner Dorothee das Korn in die Mühle tragen, was denkt Ihr, und habe vorher noch die Wäsche zum Einsprengen zu bringen!“

      „Geizdrache!“ rief Marie leise hinunter.

      Und die Mutter sagte zu Nanni: „Ja, Jungfer Veiten, das solltet Ihr nicht thun, wozu haben denn die Müller die Ställe voll Esel? Ihr solltet doch das Korn nicht selber tragen.“

      „Ja, ja, Frau Rat, wo es einen Groschen zu sparen giebt, da sollte man es wohl thun.“ Das sagte sie so etwas anzüglich, wie es ihre Art war. Und Röse und Marie hatten einen rechten Aerger auf sie; sie setzten sich nebeneinander auf der Treppenstufe zurecht und trauten sich nicht, hinunterzugehen.

      In Weimar gab es zu jener Zeit gar viele Mühlen. Da war die Burgmühle, die Federwischmühle, die Lottenmühle, die Gassenmühle und noch manche andere. Damals kauften sich die Leute nicht fertiges Mehl, sondern ungemahlenes Korn, das die Bauern Markttags in die Stadt einfuhren, und jede Familie ließ sich des Jahres ein paarmal ihr Korn in einer jener Mühlen mahlen und bestellte sich den Müllerknappen, daß er das Korn abhole. Der kam dann und lud den Kornsack auf seinen Esel. Das war natürlich für die Kinder jedesmal ein Fest.

      „So ein Geizdrache!“ sagte Röse wieder. „Schleppt das Korn selbst! Man sollte ihr doch einmal einen Streich spielen und ihr alle Esel über den Hals schicken.“

      „Du bist klug,“ meinte Marie, „das möchte ich sehen, wie das anginge?“

      „Wir bestellen sie,“ sagte Röse; „das soll keine Menschenseele