Furchtlos stellte sich der weiße Riese mit der Karottennase der heranbrausenden Detektivin in den Weg. Papa, Mama und die Kleinen schienen von diesem selbstlosen Einsatz ihres Geschöpfes nicht gerade erbaut, bezahlte der brave Schneemann seine Kühnheit doch mit dem Leben.
Mit ausgebreiteten Armen warf sich Mylady der rundlichen Gestalt an die Brust. Wie von einer Explosion zerrissen, stob das Kunstwerk aus Schnee unter dem ungestümen Anprall der resoluten Dame nach allen Seiten auseinander.
Plötzlich waren nur noch zwei Skier zu sehen, die für Sekundenbruchteile über der dichten Schneewolke auftauchten und den schwarzen Hut des Schneemannes aufgespießt hatten. Daraus schlossen die Augenzeugen, daß Agatha Simpson gerade einen Salto absolvierte.
Als der stiebende Schnee sich wieder gelegt hatte, saß Lady Agatha in etwas unbequemer Haltung mitten in dem weißen Haufen, der mal ein Schneemann gewesen war, und verzog vor Empörung das Gesicht. Die Sicherheitsbindung ihrer Skier hatte sich nicht geöffnet.
»Man bedauert zutiefst, nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen zu sein, Mylady«, versicherte Parker, als er Sekunden später am Ort des Geschehens eintraf und seiner wütenden Herrin auf die Beine half.
»Au!« gab Lady Simpson von sich, als sie den linken Fuß aufsetzen wollte. »Was ist das, Mister Parker?«
»Falls man nicht völlig fehlgeht, dürften Mylady einen Knöchelbruch erlitten haben«, antwortete der Butler nach kurzer Inspektion des schmerzenden Fußes.
Minuten später war der Krankenwagen zur Stelle. Eine gaffende Menschenmenge, auf deren Gesichtern sich Mitleid mit Schadenfreude paarte, verfolgte den Einsatz der Sanitäter.
»Und was ist jetzt mit meinem Schmuck?« protestierte Mylady, als man sie auf der Trage in das Fahrzeug schob.
*
Auf einen stationären Klinikaufenthalt wollte sich Agatha Simpson partout nicht einlassen, obwohl Parkers Verdacht durch eine Röntgenaufnahme eindeutig bestätigt wurde. Kopfschüttelnd ließ der Chefarzt die ungeduldigste Patientin seiner langen Laufbahn eine Erklärung unterschreiben, in der sie versicherte, das Krankenhaus auf eigene Verantwortung zu verlassen.
»Ihre Herrin hat, mit Verlaub gesagt, eine Konstitution wie ein Pferd«, raunte der Mediziner dem Butler zu, während Agatha Simpson mit ihrem schneeweißen Gipsbein zum Ausgang humpelte.
»Eine Feststellung, der meine Wenigkeit keinesfalls etwas hinzufügen möchte, Sir«, entgegnete Parker und lüftete höflich seinen schwarzen Bowler. »Man wünscht noch einen möglichst angenehmen Abend.«
Der Butler hatte während der ärztlichen Behandlung ein Taxi zum Hotel genommen und sein hochbeiniges Monstrum geholt, das dort in der Tiefgarage parkte. So konnte Mylady die Rückfahrt aus der benachbarten Kleinstadt in den bequemen Polstern des geräumigen Fonds antreten.
Früher hatte das schwarze, eckige Gefährt brave Dienste als Londoner Taxi geleistet. Seit Parker den Wagen erworben und umgebaut hatte, war daraus allerdings eine »Trickkiste auf Rädern«, geworden, die über einen leistungsstarken Rennmotor, schußsichere Panzerung und diverse technische Raffinessen verfügte, die der Abwehr von Verfolgern dienten.
»Bestimmt haben mir diese beamteten Schnüffelnasen schon wieder in die Ermittlungen gepfuscht«, behauptete die Detektivin mißgelaunt, als der Butler ihr vor dem Hotel aus seinem schwerfällig wirkenden Gefährt half.
Jetzt stand sogar ein zweiter Hubschrauber auf einem benachbarten Schneefeld. Bei den Fahrzeugen rechts und links des Hauptportals handelte es sich ausschließlich um Dienstwagen mit Polizeikennzeichen.
Myladys ohnehin angegriffene Stimmung sank schlagartig auf den absoluten Nullpunkt, als sie den untersetzten Mittfünfziger erblickte, der mit allen Zeichen des Erstaunens im hektischen geröteten Gesicht auf sie zuging.
»Sie hier, Mylady?« fragte McWarden fassungslos.
»Sie hier, McWarden?« äffte Agatha Simpson ihn nach.
»Demnach haben Sie noch nichts von der Entführung gehört?« erkundigte sich ihr Gegenüber. »Als ich erfuhr, daß es sich um den einzigen Sohn von Alexander Bramfield handelt, bin ich natürlich sofort im Hubschrauber von London hierhergeflogen.«
»Hamfield?« fragte Agatha Simpson mit gekrauster Stirn.
»Bramfield, Mylady. B-r-a-m-field« buchstabierte McWarden, der die kleinen Schwächen der großen Detektivin aus jahrelanger Erfahrung kannte.
Obwohl Chief-Superintendent McWarden als Chef einer Spezialabteilung bei Scotland Yard gemeinhin auf Amateure herabsah, hatte er sich bei Butler Parker doch schon manchen wertvollen Tip geholt, wenn seine konventionellen Ermittlungsmethoden nicht weiterführten.
Mylady sah den einflußreichen Beamten nicht ungern in ihrem Haus im Londoner Stadtteil Shepherd’s Market. McWardens Besuche gaben ihr nämlich jedesmal Gelegenheit zu boshaften Sticheleien, die dem schnell eingeschnappten Chief-Superintendent jedesmal die Zornesröte ins Gesicht trieben.
»Darf man auf Auskünfte hoffen, wie und wo sich das Verbrechen zugetragen hat, Sir?« schaltete Parker sich ein.
»Es geschah heute vormittag während einer Ski Wanderung, an der etwa ein Dutzend Minderjährige teilnahmen, darunter auch der zwölfjährige Oliver Bramfield«, gab der Yard-Beamte bereitwillig Auskunft, »An einer einsamen Stelle tauchte plötzlich ein mit zwei Bewaffneten besetzter Motorschlitten auf. Die maskierten Entführer bedrohten den von einer örtlichen Skischule gestellten Führer der Gruppe, schnappten sich zielsicher den jungen Bramfield und verschwanden mit Vollgas.«
»Wer ist denn dieser Hamfield, daß Sie sich persönlich aus London herbemühen, lieber McWarden?« wollte Agatha Simpson wissen.
»Alexander Bramfield besitzt eine Reihe größerer Industrieunternehmen und dürfte einer der reichsten Männer der Insel sein«, teilte der Chief-Superintendent mit. »Außerdem gilt er als sicherer Kandidat für den Posten des Wirtschaftministers in der nächsten konservativen Regierung.«
»Darf man noch fragen, Sir, ob die Entführer bereits Kontakt mit den Eltern des Jungen aufgenommen haben?« schaltete Parker sich wieder ein.
»Bisher nicht, Mister Parker«, sagte McWarden mit kummervoller Miene. »Wenn es sich um Profis handelt, werden sie vermutlich auch eine gewisse Zeit verstreichen lassen, um die Angst der Eltern noch zu steigern.«
»Eine Einschätzung, der auch meine Wenigkeit sich anschließen möchte, falls es genehm ist, Sir«, pflichtete Parker dem Beamten bei.
»Wir haben natürlich längst die Umgebung abgesucht und dabei auch die beiden Hubschrauber eingesetzt, aber die Spur des Motorschlittens im losen Pulverschnee ist längst verweht«, fuhr McWarden fort. »Selbst die kleinste Jagdhütte in den Bergen haben wir überprüft – aber alles ohne Erfolg. Wir werden uns also in Geduld fassen müssen, bis die Gangster anrufen.«
»So lange werde ich nicht warten, McWarden«, verkündete die Lady mit überlegenem Lächeln. »Ich will mich nur umziehen und ein wenig meinen Kreislauf therapieren, dann mache ich die Schurken dingfest und liefere Sie Ihnen ab.«
»Das ist doch nicht Ihr Ernst, Mylady!« rief McWarden belustigt. »Sie wissen wohl schon, wer die Täter sind, obwohl ich Ihnen eben erst von dem Fall erzählte habe?«
»Allerdings weiß ich, wer die Täter sind, mein Hochgeschätzter«, gab die ältere Dame in einem Tonfall zurück, dessen Liebenswürdigkeit schon an Unverschämtheit grenzte. »Doch davon später. Am besten warten Sie an der Hotelbar, bis ich fertig bin. Ihre Gehilfen können Sie auch nach Hause schicken. Die werden nicht mehr gebraucht.«
Entschlossen humpelte Mylady weiter, ohne die verdutzten Blicke des etwas aus der Fassung geratenen Yardbeamten zu registrieren. Jetzt erst fiel McWarden auf, daß Agatha Simpsons linkes Bein eingegipst war.
»Um Himmels willen, Mylady!« rief