Vor dem Sonntag machte ich noch meine Abschiedsbesuche bei Lehmann und Weißenfels. Beide sprachen mir noch einmal ihre Zufriedenheit aus. Weißenfels verriet mir, daß der Prüfungsvorsitzende gegen das Prädikat »Mit Auszeichnung« Einwendungen erhoben habe, weil ich es durch den Fortfall der Prüfung in allgemeiner Bildung besonders leicht gehabt hätte. Die Examinatoren aber wollten darauf bestehen, daß ich die Note I bekäme. Husserl versicherte mir am Sonntag lachend: »Wir werden für Sie kämpfen.« Tatsächlich enthielt das Zeugnis als Ergebnis der schriftlichen und mündlichen Prüfung den Vermerk: »Mit Auszeichnung bestanden.«
VIII. Aus dem Lazarettdienst in Mährisch-Weißkirchen
1.
Bald nach der Prüfung richtete ich eine Anfrage an das Rote Kreuz in Breslau, ob ich jetzt in den Sanitätsdienst eintreten könne. Da keine Antwort kam, beschloß ich, bis zum Ende des Semesters in Göttingen zu bleiben, die Vorlesungen fertig zu hören und im übrigen die Zeit für die Doktorarbeit zu verwenden. Ich begann auch wieder etwas Griechisch zu treiben, da ich doch möglichst bald das Graecum machen wollte. Vor der Abreise schickte ich aber diesmal alle meine Sachen nach Hause, weil ich es für ungewiß hielt, ob ich wiederkäme.
In Breslau reichte ich bald beim Provinzialschulkollegium die Meldung zur Ergänzungsprüfung im Griechischen ein; ich wollte sie im Herbst machen. Als ich einige Wochen zu Hause war, wurde ich ans Telephon gerufen. Es war eine Dame vom Roten Kreuz, die mich sprechen wollte: In Deutschland sei immer noch keine Nachfrage nach Schwestern, aber in Österreich sei große Not; wenn ich dorthin gehen wollte, so sollte ich mich bereitmachen, Anfang April nach Mährisch-Weißkirchen zu fahren. Ich war sofort entschlossen. Rose Guttmann hatte von dem Lazarett in Weißkirchen schon gehört, da eine Breslauer Studentin seit Monaten dort pflegte. Nun war diese Studentin – Grete Bauer – gerade auf Urlaub daheim. Ich suchte sie auf, um Näheres zu hören. Mährisch-Weißkirchen lag etwa halbwegs an der Bahnstrecke Oderberg–Wien, von uns aus mit dem D-Zug in 5–6 Stunden zu erreichen. Es hatte eine große Kadettenanstalt, die als Seuchenlazarett eingerichtet war: 4000 Betten, zur Etappe der Karpatenfront gehörig. Die kleine Studentin, ein frisches, natürliches Menschenkind, hatte sehr gern dort gearbeitet; sie sollte auch vor meinem Transport wieder zurückkehren und freute sich darauf.
Bei meiner Mutter stieß ich auf heftigen Widerstand. Daß es sich um ein Seuchenlazarett handle, sagte ich ihr gar nicht. Sie wußte wohl, daß sie mich mit dem Hinweis auf Lebensgefahr nicht umstimmen konnte. Darum sagte sie mir als äußerstes Schreckmittel, die Soldaten kämen alle mit Kleiderläusen aus dem Felde, ich würde mich davor auch nicht schützen können. Das war freilich eine Plage, vor der mir sehr graute – aber wenn die Leute im Schützengraben alle darunter leiden mußten, warum sollte ich es besser haben als sie? (N.b. Die Entlausung in Weißkirchen war so gut organisiert, daß mir diese Prüfung erspart blieb. Ich habe nur gelegentlich auf der Wäsche der Leute – und zwar auf frischer Wäsche, die gerade aus dem Schrank ausgegeben wurde – einige Tierchen zu sehen bekommen.) Als dieser Angriff gescheitert war, erklärte meine Mutter mit ihrer ganzen Energie: »Mit meiner Einwilligung wirst du nicht gehen.« Ich entgegnete ebenso bestimmt: »Dann muß ich es ohne deine Einwilligung tun.« Meine Schwestern fuhren förmlich zusammen bei dieser schroffen Antwort. An einen solchen Widerstand war unsere Mutter nicht gewöhnt. Arno oder Rosa hatten ihr wohl oft schon viel schlimmere Worte gesagt. Aber das geschah in Zornesausbrüchen, in denen sie sich selbst nicht kannten, und war schnell wieder vergessen. Hier aber ging es wirklich hart auf hart. Meine Mutter sagte nichts mehr und war einige Tage sehr schweigsam und bedrückt – eine Stimmung, die sich immer auf das ganze Haus zu legen pflegte. Als ich aber dann anfing, meine Vorbereitungen zu treffen, übernahm sie es wie selbstverständlich, mit für die erforderliche kleine Schwesternaussteuer zu sorgen. Frieda, die sich am besten darauf verstand, mußte die nötigen Einkäufe und Näharbeiten machen.
Ehe ich mit meinem Kriegsdienst begann, mußte ich noch einen Besuch im Provinzialschulkollegium machen, um meine Meldung zum Graecum zurückzuziehen oder vielmehr zu sagen, daß ich den Termin auf ungewisse Zeit verschieben müsse. Der Dezernent für die humanistischen Gymnasien, Geheimrat Thalheim, war ein gefürchteter Mann, ernst und streng. Als er den Grund der Verschiebung hörte, war er sichtlich unzufrieden, sagte aber zunächst nichts. Erst als ich schon im Hinausgehen war, rief er mich noch einmal zurück. »Sind denn Ihre Eltern einverstanden?« »Mein Vater ist schon lange tot. Meiner Mutter ist es nicht recht.« Jetzt fuhr er lebhaft auf. (Er hatte selbst eine Tochter in meinem Alter. Ich kannte sie von der Schule her.) »Freilich ist es ihr nicht recht. Ich habe Ihnen ja nichts zu sagen. Aber da Sie keinen Vater mehr haben, fühle ich mich doch verpflichtet, Sie zu warnen. Wissen Sie denn, wie es in den Lazaretten zugeht?« Ich wußte es nicht; aber wenn es war, wie er es andeutete – daß man sich sittlichen Gefahren aussetzte und daß die Schwestern in einem schlechten Ruf standen –, dann war das ja furchtbar traurig, und ich fand es nun erst recht nötig, daß Menschen mit einer ernsten Auffassung in diese Stellen kämen. So dankte ich dem Herrn Geheimrat mit aufrichtiger Herzlichkeit – es verriet doch eine große Herzensgüte, daß er so um mich besorgt war –, ließ mich aber in meinem Entschluß nicht im mindesten beirren.
Nicht lange vor meiner Abreise traf ich einmal bei Nelli Courant mit Susanne Mugdan zusammen. Sie war mit Richard befreundet; ihre Mutter hatte ihn während seiner Studienzeit wie einen Sohn bei sich aufgenommen, obgleich sie selbst zwei Söhne und zwei Töchter hatte. Bertha, die Ältere, hatte später Richards Freund, den Altphilologen Julius Stenzel, geheiratet. Er und Suses Zwillingsbruder Albrecht waren jetzt im Feld. Sie selbst war ein ernster und grüblerischer, überaus zart und tief empfindender Mensch. Sie hatte das Lehrerinnenexamen gemacht und einige Zeit unterrichtet. Da es sie aber nicht ganz befriedigte, hatte sie das Abitur nachgeholt und studierte jetzt Chemie an der Technischen Hochschule in Breslau. Als sie hörte, was ich vorhatte, faßte sie es sofort als eine Mahnung für sich auf, sich auch zur Verfügung zu stellen. Wenige Wochen nach meiner Abreise folgte sie mir nach Weißkirchen.
Ehe ich abfuhr, ließ mich Erna in die Frauenklinik Max-Straße kommen und machte mir die Schutzinjektion gegen Typhus und Cholera. Viele Leute reagierten darauf einige Tage lang mit richtigen fieberhaften Erkrankungen, aber mir machte es nichts.
Die Lazarette in Böhmen und Mähren waren überwiegend in der Hand deutscher Schwestern. Die Berufsorganisation deutscher Krankenschwestern hatte es übernommen, sie einzurichten, und das schlesische Rote Kreuz versorgte sie mit Helferinnen. Eine Dame in Breslau, Fräulein Gertrud Stein, hatte diese Vermittlung in der Hand. Sie kam zur Bahn, als ich am 7. April 1915 früh um 6Uhr abreiste, machte mich mit zwei andern Helferinnen bekannt, die aus Sachsen kamen und mit mir zusammen nach Weißkirchen fahren sollten, und überreichte uns unser Abzeichen: die Helferinnenbrosche aus Email, ein schwarzes Schleifchen mit einem roten Kreuz auf weißem Feld in der Mitte. Die beiden Gefährtinnen aus Sachsen waren junge Mädchen, die eine aus guter Bürgerfamilie, die andere etwas einfacher, beide – wenn ich mich recht erinnere – Haustöchter ohne Beruf. Natürlich waren wir alle gespannt auf unser neues Betätigungsfeld. In der Mittagsstunde waren wir am Ziel. Wir nahmen am Bahnhof einen Wagen und fuhren zum Lazarett. Es lag ziemlich weit außerhalb der Stadt. Mährisch-Weißkirchen war ein nettes Städtchen. Am Marktplatz steinerne »Lauben« (Arkaden), wie ich sie aus alten Städten in Schlesien und Böhmen kannte; unter den Bogen Verkaufstische, die aus den dahinterliegenden Läden herausgeschoben waren. Vor dem Tor eines langgestreckten Gebäudes hielt unser Wagen. Drei große Häuser lagen unmittelbar aneinander anschließend an der Landstraße. Um an der ganzen Front entlangzugehen, brauchte man etwa zehn Minuten. In Friedenszeiten waren hier eine