Dr. Daniel empfand ehrliches Mitleid mit der jungen Frau, obwohl sie ihn in den letzten beiden Jahren manchmal den sprichwörtlichen letzten Nerv gekostet hatte. Sie bemühte sich nämlich schon fast fanatisch um eine Schwangerschaft, und so konnte sich Dr. Daniel unschwer vorstellen, wie es in ihrem Innern aussehen mußte – vor allem, weil sie sich ihrem großen Ziel nun schon so nah geglaubt hatte. Er zögerte einen Moment, dann bat er seine Sprechstundenhilfe doch, sich ein wenig um Patricia zu kümmern. Erst jetzt trat er zum Telefon und wählte die Nummer der Klinik, in der sein bester Freund Chefarzt war.
»Verbinden Sie mich bitte mit Dr. Sommer«, verlangte Dr. Daniel, als sich die Dame von der Krankenhausvermittlung gemeldet hatte.
»Tut mir leid, aber der Herr Chefarzt ist diese Woche auf einem Ärztekongreß in Freiburg«, entgegnete die Dame. »Soll ich Sie mit dem Oberarzt verbinden?«
Dr. Daniel überlegte kurz und lehnte dann ab. Er wußte zwar, daß Dr. Sommer ein ausgezeichnetes Team besaß, dennoch hätte er Patricia Gerhardt gerade in diesem speziellen Fall lieber bei ihm persönlich gewußt.
Nachdenklich rieb sich Dr. Daniel das Kinn. Die Operation mußte innerhalb der nächsten Tage durchgeführt werden. Alles andere wäre ein Risiko, das man keinesfalls eingehen durfte.
Entschlossen griff Dr. Daniel erneut nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer der Thiersch-Klinik in München. Er selbst hatte vor vielen Jahren dort als Assistenzarzt gearbeitet und wußte daher, daß der dortige Chefarzt ein As auf seinem Gebiet war. Doch auch hier hatte Dr. Daniel kein Glück. Professor
Thiersch war im Augenblick nicht in der Klinik.
Dr. Daniel überlegte kurz und ließ sich dann mit dem Oberarzt verbinden.
»Heller!« meldete der sich mit tiefer Stimme.
»Guten Tag, Herr Kollege«, grüßte Dr. Daniel. »Hier Daniel aus Steinhausen.« Und dann kam er gleich zur Sache. »Bei mir in der Praxis sitzt eine junge Frau, bei der höchstwahrscheinlich eine Eileiterschwangerschaft vorliegt. Ich denke, es müßte innerhalb der nächsten Tage operiert werden… vielleicht sogar heute noch. Kann ich die Patientin zu Ihnen schicken?«
»Selbstverständlich«, antwortete Dr. Heller sofort. »Der Chefarzt ist im Augenblick zwar nicht im Haus, aber ich erwarte ihn praktisch jeden Moment.«
Obwohl Dr. Daniel wußte, welch ein erstklassiger Arzt Dr. Rolf Heller war, beruhigte es ihn doch, daß der Professor in der Klinik wenigstens erwartet wurde.
»Sollen wir Ihnen einen Wagen schicken?« drang Dr. Hellers Stimme an sein Ohr und riß ihn aus seinen Gedanken.
Dr. Daniel zögerte, dann nickte er, obwohl sein Gesprächspartner das nicht sehen konnte. »Das wäre vielleicht von Vorteil. Ich hätte Frau Gerhardt selbst nach München gebracht, aber leider habe ich noch ein paar Patientinnen im Wartezimmer sitzen.«
»Kein Problem«, meinte Dr. Heller. »In einer halben Stunde ist der Wagen bei Ihnen.«
Dr. Daniel bedankte sich, dann kehrte er ins Untersuchungszimmer zurück und sah auf den ersten Blick, daß Patricia geweint hatte. Tröstend legte er einen Arm um ihre Schultern.
»Ich kann mir wahrscheinlich nicht einmal vorstellen, wie schlimm das ist, was Sie jetzt durchmachen«, erklärte er in einfühlsamem Ton. »Und vermutlich ist es auch kein Trost, wenn ich sage, daß Sie wieder ein Baby haben können, aber ich glaube, daran sollten Sie sich jetzt festhalten, Frau Gerhardt. Sie sind erst sechsundzwanzig, und ich bin sicher, daß Sie noch ein Baby bekommen werden.«
Mit tränenfeuchten Augen sah Patricia zu ihm auf. »Danke, Herr Doktor. Ihre Worte haben mir jetzt sehr gut getan.« Dann verzog sie wie im Schmerz ihr Gesicht.
Besorgt sah Dr. Daniel sie an. »Was ist denn los, Frau Gerhardt? Haben Sie Schmerzen?«
»Ja… das heißt, eigentlich ist es kein richtiger Schmerz«, meinte sie. »Ich weiß nicht so recht, wie ich es beschreiben soll. Ich hatte das gestern auch schon mal. So ein seltsames Ziehen im Unterleib. Sehr unangenehm. Und im Augenblick zieht es bis zur Schulter hinauf.«
Diese Auskunft genügte Dr. Daniel, um zu wissen, daß jetzt wirklich Eile geboten war.
»Haben Sie heute schon etwas gegessen?« fragte er.
Patricia schüttelte den Kopf. »Ich kriege morgens vor lauter Übelkeit nichts runter.« Sie sah Dr. Daniel an. »Glauben Sie, dieses Zeichen kommt von meinem nüchternen Magen?«
Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, Frau Gerhardt, ich fürchte, daß der Embryo dabei ist, den Eileiter zu sprengen. Und ich wollte wissen, ob Sie etwas gegessen haben, weil sie vermutlich noch heute operiert werden müssen.«
Patricia erschrak. »Aber… heißt das… ich muß jetzt sofort in die Klinik?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe doch gar nichts dabei. Und Oliver weiß auch nicht Bescheid.«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, versuchte Dr. Daniel sie zu beruhigen. »Ich hätte Sie so oder so gleich in die Klinik transportieren lassen. Der Krankenwagen ist auch schon unterwegs. Und Ihren Mann werde ich anrufen. Er kann Ihnen dann auch alles, was Sie brauchen, in die Klinik bringen. Und fürs erste bekommen Sie dort das Nötigste.«
In diesem Moment hörte Dr. Daniel ein Auto auf den Vorplatz fahren.
»Ah, der Wagen von der Thiersch-Klinik ist schon hier«, meinte er, dann griff er nach Patricias Arm. »Kommen Sie bitte, und machen Sie sich keine Sorgen – es wird alles gut werden.«
Fürsorglich begleitete Dr. Daniel seine Patientin nach draußen und informierte den begleitenden Sanitäter, daß Frau Gerhardt noch nüchtern sei und vermutlich sofort operiert werden müßte.
*
Währenddessen wurde in der Thiersch-Klinik schon alles für die Operation vorbereitet. Obwohl Dr. Daniel am Telefon noch nichts davon gewußt hatte, wie schlimm es um Patricia Gerhardt stand, wollte Dr. Heller kein Risiko eingehen. Natürlich würde er die Patientin erst untersuchen, aber für alle Fälle wollte er den Operationssaal bereit wissen.
Eine Untersuchung der Patientin erübrigte sich jedoch. Als Patricia auf einer fahrbaren Trage in die Klinik gebracht wurde, war sie bereits bewußtlos.
»Bevor sie das Bewußtsein verlor, klagte sie über Schmerzen im Unterleib, die sich bis zur Schulter hinaufzogen«, gab der Sanitäter Auskunft.
Das genügte Dr. Heller, um zu wissen, daß jetzt höchste Eile geboten war. Der Anästhesist war auch schon zur Stelle, während sich Dr. Heller sorgfältig die Hände wusch und dann eilig den Operationssaal betrat. Die Patientin lag in der Narkose und war mit keimfreien, grünen Tüchern abgedeckt. Nur das Operationsfeld war frei.
Dr. Heller streckte die rechte Hand aus. »Skalpell.«
Im selben Moment trat Professor Thiersch an den OP-Tisch. Er und Dr. Heller wechselten einen kurzen Blick.
»Machen Sie weiter, Heller«, wies der Professor seinen Oberarzt an. »Ich übernehme die Erste Assistenz.«
Es war eine schwierige Operation, denn das befruchtete Ei hatte den Eileiter – wie Dr. Heller schon bei der Einlieferung der Patientin befürchtet hatte – tatsächlich gesprengt. In der Folge war es zu heftigen Blutungen im Bauchraum gekommen. Eine Rettung des Eileiters war unmöglich geworden. Dr. Heller mußte ihn entfernen, um die Blutung stillen zu können.
Er und Professor Thiersch arbeiteten Hand in Hand und voller Konzentration.
»Verdammt, es fängt wieder an«, knurrte Dr. Heller, als erneut Blut in den Bauchraum trat, doch das konnte ihn nicht aus der Ruhe bringen. Er hatte solche Operationen schon mehrmals durchgeführt und wußte genau, was er tat.
Dann war die Blutung endlich gestillt, und Dr. Heller konnte die Operation beenden. Er machte noch die Naht, dann trat er vom OP-Tisch zurück.
»Saubere Arbeit«, erklärte Professor Thiersch anerkennend.