7 Über dieses Gemälde ist naturgemäß viel geschrieben worden. Eine instruktive Eingliederung seiner Struktur in avantgardistische Strömungen findet sich bei Wagner, Monika: Das Problem der Moderne. In: Dies. (Hrsg.): Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst. Reinbek bei Hamburg 1991, Bd. I, S. 15–29, S. 20ff.
8 Wie das der wichtige Ausstellungskatalog »Ernste Spiele. Der Geist der Romantik in der deutschen Kunst 1790–1990«. Haus der Kunst München 1995, tut.
JOSEPH MALLORD WILLIAM TURNER
(* LONDON 23. 4. 1775, † EBENDA 19. 12. 1851)
Turner malte die Natur wie vor ihm noch kein Künstler. Vor seinen Bildern gewinnt man den Eindruck, die Dinge ein erstes Mal zu sehen, als einen Kosmos der Farbe und des Lichts. John Ruskin (1819–1900), der prägende Kunsttheoretiker der Romantik in England und der leidenschaftliche Verteidiger von Turners Malerei gegen Spötter, formulierte 1843 in seinem Buch »Modern Painters«, dass es diesem Genie um ein modernes und zukunftsweisendes Sehen ging, das jenen Zustand zurückgewinnen wollte, den man »die Unschuld des Auges nennen könnte.«9
Über 60 Jahre hat Turner unermüdlich gearbeitet. Der Bogen seines Stils spannt sich vom ausgehenden Rokoko bis zu den kühnen, fast schon abstrakt wirkenden Farbgeweben der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Ein einschneidendes Ereignis brachte das Jahr 1794. Turner lernte im Winter Dr. Thomas Monro (1759–1833) kennen. Eine Leidenschaft des schwerreichen Arztes galt der Förderung junger Künstler. Deshalb lud er Turner ein, nach Aquarellen seiner riesigen Kunstsammlung zu kopieren. In der Zusammenarbeit von Turner und anderen Talenten, die bei Monro verkehrten, bildete sich damals ein Aquarellstil aus, der seiner Anonymität wegen als »Dr. Monro School« in die Forschung einging. Nicht zuletzt in diesem mäzenatischen Umfeld wurden die Weichen gestellt, die Turners künftiges Schaffen in die Bahn einer licht- und farbdominanten Gestaltung lenkten und auch seine Ölbilder um revolutionäre Klangfarben bereicherten.
Orientierungshilfe boten zunächst die Landschaftsmalerei Claude Lorrains (zu diesem wie zu den meisten der in vorliegendem Buch erwähnten älteren Maler ausführlich in Band I) sowie die Reflexionen des Philosophen Edmund Burke (1729–1797) über das »Schöne und Erhabene«. In der Sammlung John Julius Angerstein, die später, 1824, den Grundstock der National Gallery in London bilden wird, stand Turner 1799 vor einer Lorrainschen Hafenansicht. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen: So war Licht zu malen! Lorrains duftige Abstufungen, der Blick auf die Sonne, schienen ihm derart unübertrefflich, dass er, seinen eigenen Worten zufolge, zu Tränen gerührt war. Niemals, so glaubte er, würde er diese Meisterschaft erreichen. Darin täuschte er sich. Von nun an experimentierte er mit der Verteilung der Farben, dem Einsatz von Helldunkel, einem ständig freieren Pinselduktus.
Unablässig beschäftigte er sich mit zeitgenössischen Farbtheorien und, gegen Ende seines Lebens, mit Lichtproblemen der Daguerrotypie. Denn im Studium optischer Gesetzmäßigkeiten sah er die Chance, über persönliche Weltdeutung hinaus zu einer objektiven Welterkenntnis vorzudringen. Licht und Dunkel erhebt Turner zu Äquivalenten eines formlosen Urzustandes, aus dem wie in allmählicher Verdichtung allererst das Bild der Welt erwächst.
Seine gestalterischen Mittel werden seit etwa 1810 zunehmend weniger in den Dienst der Mimesis, der getreuen Naturnachahmung, gestellt, die Farbe löst sich vom linearen, zeichnerischen Gerüst, wodurch eine gegenstandsauflösende, eine die Malmaterie fast absolut setzende Bildtextur entsteht, die im 20. Jahrhundert gelegentlich mit Strukturen des Informel verglichen wurde. Doch ging es Turner nicht um den experimentellen Abstraktionsprozess an sich, sondern um eine Analogie zum Schaffensvorgang der Natur und um die Veranschaulichung von Werden und Vergehen, kurz: um die Paraphrase der Weltschöpfung. »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben«, erkannte Goethes Dr. Faustus. In diesem Sinne sprach William Hazlitt, der schon 1816 Turners Gestaltungsprinzip »abstrakt« genannt hatte, von einer Darstellung weniger der Naturgegenstände, als vielmehr des Mediums, durch das sie gesehen werden, also der Elemente Luft, Erde und Wasser: »Der Maler geht zurück zu dem anfänglichen Chaos der Welt. Alles ist formlos und entleert.« Jemand, so Hazlitt weiter, habe Turners Landschaften als »Bilder des Nichts, aber sehr ähnlich« eingestuft.10
Was man dem Œuvre Turners ablesen kann, ist das permanente Erproben der Kunstmittel. Doch diese hochgradig artistische Methode ist sich nie selbst genug, sie bedeutet immer eine »Poetisierung« und zyklische »Mythologisierung« der Landschaft, die an Intensität und visionärer Wirkung schlechthin ohne Vergleich ist. »In dieser Summe der landschaftlichen Möglichkeiten«, so das eindringliche Resümee von Werner Hofmann, »tauchen noch einmal, wie im Abendlicht der Landschaftsmalerei, die alten Götter und die Kultstätten der religiösen und geistigen Bildung des Abendlandes auf, in ihr zeichnen sich aber auch die Umrisse des technischen Zeitalters ab. Turners Landschaft ist elysäisches Gefilde und Pandämonium, apokalyptisches Chaos und gemalter Mythos von der Verschmelzung aller Elemente.«11
Jenen Enthusiasten der Farbe und des Lichts begeisterte, wie sollte es anders sein, der Zauber Venedigs. Zurück in England, schuf er aus der Erinnerung Aquarelle und Ölgemälde mit venezianischen Motiven, in denen sein Spätstil zu einer richtiggehenden Eruption von Farbe und Licht heranreift, zu einer beispiellosen Handhabung des farbigen Instrumentariums. Dumme Spötter glaubten diese herrliche Polyphonie verunglimpfen zu müssen, indem sie 1841 folgende Pantomime aufführten: Ein Konditorlehrling stolpert und schleudert unabsichtlich Konfekt auf ein Turner-Bild, sodass es völlig besudelt ist. Doch zum Erstaunen des zunächst erzürnten Galeristen lässt sich das Bild als Turnersche »Schmiererei« umso besser verkaufen! Hinter jenem plumpen Spott lauerte Neid und versteckte sich die Ahnung um die avantgardistische Kühnheit einer Kunst, die erst von den Impressionisten und in der Moderne des 20. Jahrhunderts wieder erreicht werden sollte.
9 Bockemühl, Michael: J. M. W. Turner 1775–1851. Die Welt des Lichtes und der Farbe. Köln 1993; Powell, Cecilia u.a.: William Turner in Deutschland. München 2000; Költzsch, Georg-W.: William Turner. Die Wahrheit der Legende. Köln 2002
10 Zitiert nach Wagner, Monika: Wirklichkeitserfahrung und Bilderfindung. William Turner, in: Dies. (Hrsg.): Moderne Kunst 1. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst. Reinbek bei Hamburg 21991, S. 115-134, S. 127
11 Hofmann, Werner: in: Ausstellungskatalog »William Turner und die Landschaft seiner Zeit«. Hamburger Kunsthalle 1976. München 1976, S. 51
JOHN CONSTABLE
(* EAST BERGHOLT/SUFFOLK 11. 6. 1776,
† LONDON 31. 3. 1837)
Constable ist der neben Turner bedeutendste englische Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts und einer der wichtigsten Repräsentanten dieses Genres generell – so das einhellige Urteil über diesen Gattungs-Spezialisten.12 Doch wie sieht der zugrundeliegende Wertmaßstab aus? Zumal die spätere fortuna critica bediente sich des Topos, Constable sei so etwas wie der Vorläufer der Impressionisten, wegen der atmosphärischen Erfassung der Naturphänomene, sei es in Ölbildern beziehungsweise -studien, sei es in Aquarellen.
Gewiss, es wäre falsch, die Leistung eines Künstlers nach einem Entwicklungsmodell zu bemessen, demzufolge ältere Kunst dann positiv zu bewerten sei, wenn sie scheinbar strikt auf Avantgarde zusteuere – tue sie dies nicht, sei sie rückständig, jedenfalls eine Art Sackgasse der kunstgeschichtlichen Evolution. Dementsprechend hat sich die kanonische Stilgeschichte, basierend auf dem Ideal des evolutionären Fortschritts, das 19. Jahrhundert im schnittigen Verlauf zurecht gelegt, vom Klassizismus über (Spät-)Romantik und Realismus zu Manet und zum Impressionismus; mit den Neoimpressionisten sowie den »Vätern der Moderne« (van Gogh, Gauguin und Cézanne) beginnt diesem Stemma zufolge die sich vom Sujet lösende Bildautonomie, die zur abstrakten Malerei des 20. Jahrhunderts weiterführe.
Wer