Diesen radikalen Klassizismus – Äquivalent für Selbstdisziplin, »Männlichkeit«, Römertugend – konnte David nun in zeitgenössischer Lebenspraxis aufheben! Nämlich in den militärischen Ziel- und Idealvorstellungen, die in Frankreich bereits seit den letzten vorrevolutionären Dezennien virulent waren und von den Ideologen der Revolution dann begeistert aufgegriffen wurden. Der Spezialfall soldatischen Gehorsams rückte bei Theoretikern der Kriegskunst zu einem Hauptanliegen auf. Es waren die Militärs, die vom historischen römischen Tugendmodell profitieren wollten: antike Tugend als Vorbild für französische Armeen! Die Historienmalerei sollte maßgeblich an der Gestaltung solcher, über die Sinne an Herz und Willenskraft appellierender, Arrangements mitwirken.3 Da scheint es dann schon symbolträchtig, dass der Name »Avantgarde« ursprünglich die militärische Vorhut bezeichnete, die unbekanntes Gelände erkundet. In der Zeit der Französischen Revolution hat man den Terminus auf die aktuellen Künstler übertragen!
Indes, hätte diese Art von Avantgardismus ausgereicht, David zum bedeutendsten Maler des Klassizismus und zu einem der ganz Großen in der Kunstgeschichte zu adeln?
Werfen wir einen Blick auf sein berühmtestes Gemälde, Der ermordete Marat von 1793 (Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts).4 Der in der Badewanne erstochene Revolutionär ist erneut in ein Bildgerüst eingepasst, das das »totalitäre« Ethos des rechten Winkels demonstriert. Aus der Rhetorik der Davidschen Bild-Reportage heraus entsteht das Epitaph des »Staatsmärtyrers« und wird zur Ikone der Revolution stilisiert. Im Gleichklang mit diesem ideologischen Faktor (das Bild wurde im Nationalkonvent, den Abgeordneten gegenüber, gehängt) gelang es David, dem pseudo-sakralisierten »Helden« die Würde eines noch den gegenwärtigen Betrachter tief berührenden Menschenbildes mitzuteilen: Die von der Farbe lediglich diffus strukturierte dunkle Leere, die Marat oben und hinten, in weiten Partien des Bildes, umgibt – man darf sie als eine Herausgehobenheit aus konkreten zeitlichen und örtlichen Daseinsbedingungen interpretieren, man kann sie als das optische Äquivalent für die Einsamkeit des Todes deuten. Propagandakunst ist genial mit Existentialismus versöhnt!
Der Tod des Marat ist das größte Kunstwerk geblieben, das der moderne Parlamentarismus hervorbrachte, und er ist zudem ein Chef-d’œuvre der europäischen Kunstgeschichte.
2 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt am Main 1974, S. 69, 78 und passim
3 Stolpe, Elmar: Klassizismus und Krieg. Über den Historienmaler Jacques-Louis David. Frankfurt am Main-New York 1985
4 Traeger, Jörg: Der Tod des Marat. Revolution des Menschenbildes. München 1986 (manche Thesen sind nicht unumstritten, dennoch stellt das Buch eine unverzichtbare Monografie zu diesem Bild dar).
CASPAR DAVID FRIEDRICH
(* GREIFSWALD 5. 9. 1774, † DRESDEN 7. 5. 1840)
Der norwegische Maler Johan Christian Clausen Dahl, der sich in Dresden mit Friedrich anfreundete, beklagte, dass die meisten Zeitgenossen lediglich konstruierte Ideen ohne jegliche Naturwahrheit in Friedrichs Landschaften sahen. »Friedrich fesselt uns an einen abstracten Gedanken […]«, bedauerte wenig später der Biedermeier-Maler Adrian Ludwig Richter. »Friedrich gerät von Jahr zu Jahr tiefer in den dicken Nebel der Mystik; nichts ist ihm neblicht und wunderlich genug; er grübelt und ringt darnach, das Gemüth durchaus auf das Höchste zu spannen«, liest man 1820 in dem in Tübingen herausgegebenen »Kunstblatt«. Und weiter: »›Ja‹ – sagen seine blinden Anhänger – ›man kann sich doch sehr viel dabey denken!‹ Dieß will sehr wenig sagen; stellt eine leere Tafel hin, und man kann sich noch mehr dabey denken.«5
Solche Aussagen bekunden, dass die Umwelt dem norddeutschen Maler nach der positiven Rezeption seines Frühwerks bald kaum noch mit Anerkennung begegnete. Strahlender Ruhm, gar internationaler, wurde ihm zu Lebzeiten nicht zuteil, sieht man einmal davon ab, dass der russische Zarenhof Friedrich gelegentlich Bilder abkaufte. Erst das 20. Jahrhundert hat seine Bedeutung wieder erkannt und ihn dann Zug um Zug zur Kultfigur promoviert. Man hat gesehen, dass Friedrich nicht nur der größte Maler der deutschen Romantik war, sondern dass er Strukturen entwickelte, die Künftiges vorwegnahmen.6
Man denke nur an das 1810 vollende Gemälde Der Mönch am Meer, das zweifellos kühnste Bild der deutschen Romantik, und eines der innovativsten des europäischen 19. Jahrhunderts. Die Komposition bricht mit allen Traditionen. Es gibt keine perspektivische Tiefe mehr. Am unteren Bildrand steigt das schmale Dünenufer als weißlicher Streifen im stumpfen Winkel nach links an, im Scheitelpunkt die winzige Gestalt eines schwarz gekleideten Mannes als Rücken-, somit als Identifikationsfigur: die einzige Vertikale im Bild. Rund fünf Sechstel der Bildfläche sind der diffusen Struktur des Wolkenhimmels reserviert. Ziel dieses Darstellungsmodus ist ein unbegrenztes Raumerlebnis. Bis zum Horizont findet man sich noch einigermaßen zurecht in den Größenverhältnissen. Der Hintergrund jedoch lässt sich nicht mehr messend erfassen. Weil alle Linien aus dem Bild fließen, wird Unendlichkeit zum eigentlichen Bildinhalt. Der Mönch sinnt im Gefühl seiner Kleinheit über die Gewalt des Universums nach.
1810 veröffentlichte Heinrich von Kleist seine bekannte Rezension über den Mönch am Meer, in der von apokalyptischer Einförmigkeit und Uferlosigkeit die Rede ist; das Bild habe nichts als den Rahmen zum Vordergrund, »als wenn einem die Augenlider weggeschnitten wären«. Kleist definiert die Modernität des Gemäldes, das die künstlerisch-kreativen Prozesse in einen intermediären Imaginationsbereich verlegt: »[…] das, was ich im Bilde selbst finden wollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde […]«. Das Bild ist demnach kein illusionistischer Naturersatz mehr, es ist ein System, das erst vollständig wird, wenn die Subjektivität und Emotionalität des Betrachters hinzutritt.7
Warum haben die Zeitgenossen all das so wenig goutiert?
In den Jahren, in denen die napoleonische Besatzungsmacht in Dresden eine rigide Zensur ausübte, war Friedrich zu Verklausulierungen seiner Themen gezwungen, um seine patriotische Haltung nur Eingeweihten offenkundig werden zu lassen. Patriotismus hieß für ihn Solidarität mit den Zielen der Freiheitskämpfer, hieß damit aber auch Parteinahme für einen bürgerlich-republikanischen Nationalstaat. Ein Maler, der sich weigerte – wie er es später ausdrückte – »Fürstenknecht« zu sein, konnte nach dem Wiener Kongress 1815 und der Metternichschen Restauration im offiziellen Kunstleben nicht mehr reüssieren. Das Eismeer beispielsweise (um 1823/24; Hamburger Kunsthalle) mit dem Motiv des von den Eisschollen erdrückten Segelschiffs in menschenleerer Polarlandschaft, dieser Protest gegen den deutschen politischen »Winter«, konnte an höchster Stelle keine Freunde finden.
Doch nicht nur seiner politischen Aussage wegen, auch hinsichtlich seiner kompositorischen Radikalität wurde besagtes Gemälde dem Publikum zum Ärgernis. War es doch erneuter Beweis, dass Friedrich die im Akademiebetrieb geringgeschätzte Landschaftsmalerei semantisch aufwertete und sämtliche akademisch-klassizistischen Regeln negierte, vor allem die der perspektivischen Raumdisposition. Und er setzte an die Stelle literarisch vorgegebener Inhalte – die die Historienmalerei damals unermüdlich rekapitulierte – die Novität subjektiven Erlebens: Dem leiblichen (äußeren) Auge sei das geistige (innere) Auge – kurz: die Phantasie vorzuziehen, selbst dann, wenn man deswegen mit formalen Normen brechen müsse.
Das 20. Jahrhundert hat in einer Phase, als die Dominanz der Abstraktion in der Kunst gebrochen, als Avantgarde nicht mehr automatisch mit reinen Formexperimenten gleichgesetzt wurde, als die Suche nach neuen Mythen in der Kunst begann, dies mit Begeisterung affirmiert, immer wieder freilich auch einer »typisch« deutschen Innerlichkeit zugeschrieben.8 An letzterem mag Wahres sein. Doch die Hauptleistung Friedrichs ist universeller. Er gehört zu jenen genialen Antizipatoren der Moderne, die bewusst »Leerstellen« in ihre Bilder einbauen, damit diese von der Phantasie der Rezipienten gefüllt werden. Nicht zuletzt deshalb sind seine Kirchenruinen und Seestücke, seine Fensterbilder und Riesengebirgslandschaften, seine Felsen auf Rügen und seine Mondscheinlandschaften inzwischen zu unverrückbaren Elementen des kollektiven Bildbewusstseins geworden.
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