Alles war so unerwartet und so plötzlich gekommen, und Tamara hatte einfach nicht glauben wollen, daß sie ihren fröhlichen, charmanten Schwager und die Schwester, die sie angebetet hatte, nie wieder sehen würde.
“Nach dem Tod meines Vaters habe ich ein Zuhause bei ihnen gefunden“, erklärte Tamara. “Sie müssen daher verstehen, Mr. Lawson, daß ich alles tun werde, um den Kindern den Verlust der Eltern zu erleichtern.“
Der Anwalt hörte Tamaras Stimme an, daß sie den Tränen nahe war.
“Ich verstehe Ihre Gefühle, Miss Selincourt“, sagte er nach einer Weile. “Deshalb werden Sie auch einsehen, daß ich Ihnen nur eine Möglichkeit vorschlagen kann.“
“Nämlich?“ fragte Tamara.
“Die Kinder zu ihrem Onkel, dem Herzog von Granchester, zu bringen.“
Wenn direkt vor Tamara eine Bombe explodiert wäre, hätte sie nicht erschreckter sein können.
“Zum Herzog von Granchester?“ fragte sie entsetzt. “Wie können Sie auch nur auf die Idee kommen?“
“Was bleibt denn anderes übrig?“ fragte Mr. Lawson. “Soweit ich weiß, pflegte Ihr Schwager keinen Kontakt mit seinen Verwandten, aber der Herzog ist trotz alledem für die Kinder, die nun Waisen sind, verantwortlich.“
“Das kommt nicht in Frage“, sagte Tamara. “Sie wissen selbst, wie der Herzog meinen Schwager und auch meine Schwester behandelt hat.“
“Natürlich weiß ich es“, sagte Mr. Lawson ruhig. “Aber der Herzog kann schließlich nichts für die Haltung seines Vaters, der gegen die Ehe zwischen Ihrem Schwager und Ihrer Schwester gewesen ist.“
“Skandalös hat er sich benommen“, ereiferte sich Tamara, und ihre dunklen Augen glühten. “Unmenschlich war das! Wissen Sie, was passierte, als Ronald seinem Vater schrieb, daß er meine Schwester heiraten will?“
Mr. Lawson schwieg.
“Er kam nach Oxford“, fuhr Tamara fort, “wo Ronald damals wohnte und sagte ihm, daß er nie wieder ein Wort mit ihm sprechen würde, wenn er Maika heiratet.“
“Sie müssen verstehen“, sagte Mr. Lawson beschwichtigend, “daß der Herzog, der ein sehr frommer Mann gewesen ist, einen Horror vor allem hatte, was mit der Bühne zu tun hat.“
“Weil Maika auf der Bühne auftrat, war sie noch lange keine Schauspielerin“, sagte Tamara. “Meine Schwester war Sängerin und hat sich nur aus dem einen Grund einem Opernensemble angeschlossen, weil meine Mutter todkrank war und mein Vater nicht das Geld hatte, die Ärzte, die zugezogen werden mußten, zu bezahlen.“
Mr. Lawson wollte etwas sagen, kam aber nicht zu Wort.
“Sie hat innerhalb von zwei Jahren so viel Geld verdient“, fuhr Tamara fort, “daß die Behandlungen, die für meine Mutter lebensnotwendig waren, bezahlt werden konnten.“
“Das hat man dem Herzog damals aber doch bestimmt auseinandergesetzt, oder?“ fragte Mr. Lawson.
“Aber zugehört hat er nicht“, sagte Tamara. “Er hat Ronald nicht ein Wort zur Verteidigung meiner Schwester anbringen lassen.“ Sie holte tief Luft. “Ich weiß von Ronald selbst, daß der Herzog von Maika wie von einer Prostituierten gesprochen hat. Er hat es abgelehnt, sie auch nur kennenzulernen, sondern lediglich seine Drohung wiederholt. Als Ronald darauf bestand, Maika zu heiraten, ist der Herzog abgereist und hat nie wieder von sich hören lassen. Was für ein Mensch ist dieser Herzog gewesen? Verbietet seinem Sohn, auch nur ein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen! Es ist unglaublich!“
“Der Herzog ist nun schon seit geraumer Zeit tot“, sagte der Anwalt ruhig.
“Sicherlich, aber der jetzige Herzog ist keinen Deut besser“, sagte Tamara. “Er ist lediglich ein Jahr älter als Ronald, und man sollte doch meinen, daß er Verständnis oder wenigstens Mitleid gehabt haben sollte. Aber nein, auf kriecherische Weise hat er den Befehl seines Vaters, das ,schwarze Schaf’ zu ignorieren, akzeptiert.“
Tamara stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus. Sie kämpfte mit den Tränen.
“Sie wissen doch selbst“, fuhr sie fort, “wie liebenswert, gütig und anständig meine Schwester gewesen ist. Sie hat übrigens die Bühne und alles, was damit zusammenhängt, zutiefst verabscheut.“
“Das hat sie mir einmal gesagt“, bemerkte Mr. Lawson.
“Sobald sie genug Geld zusammen hatte, um meine Mutter zu retten, hat sie ihren Beruf aufgegeben. Sie war dann nur noch für Ronald da, wie sie es sich schon immer gewünscht hatte, und die beiden waren überglücklich.“
“Ich glaube, ich habe nie ein glücklicheres Ehepaar gesehen“, sagte Mr. Lawson fast neidisch.
“Und sie sind zusammen gestorben“, fuhr Tamara leise fort. “Allein hätte wahrscheinlich keiner von beiden weiterleben können.“
Mr. Lawson schob die Brille zurecht.
“Um noch einmal auf die finanzielle Situation zu sprechen zu kommen“, sagte er, “ich sehe keinen anderen Weg, als die Kinder dahin zu bringen, wo sie hingehören.“
“Glauben Sie denn im Ernst, ich würde mich darauf einlassen?“ fragte Tamara. “Glauben Sie, daß ich mich und die Kinder erniedrige und jemanden um einen Gefallen bitte, der sich seinem eigenen Bruder gegenüber abscheulich benommen hat? “
“Haben wir eine andere Wahl?“ fragte Mr. Lawson.
“Es muß doch eine andere Möglichkeit geben“, drängte Tamara verzweifelt. “Was könnten wir denn bloß tun?“
“Keine Ahnung“, antwortete Mr. Lawson. “Ehrlich, Miss Selincourt, ich halte es nur für recht und billig, daß sich der Herzog um die Kinder seines verstorbenen Bruders kümmert.“
Tamara schwieg.
“Mr. Trevana“, fuhr daher der Anwalt fort, “der Mann, der sich für das Haus interessiert, ist bereit, die Schulden Ihres Schwagers zu übernehmen, wenn er das Haus sofort beziehen kann.“
“Will er es für sich selbst?“ fragte Tamara.
“Nein, für seinen Sohn, der bald heiratet. Trevana ist ein etwas schwieriger Mensch. Wenn wir seine Bedingungen nicht erfüllen, tritt er von dem Kauf zurück und sieht sich nach einem anderen Haus um.“
Tamara nickte. Daß es nicht einfach sein würde, ein Haus von der Größe und noch dazu in einem entlegenen Teil Cornwalls gelegen zu verkaufen, war ihr klar.
Es konnte Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis sie einen neuen Käufer fanden, und die Kinder mußten verpflegt und gekleidet werden. Und die Schulen kosteten auch Geld.
“Weiß der Herzog, daß sein Bruder tot ist?“ fragte Tamara nach einem Moment.
Mr. Lawson setzte eine entschuldigende Miene auf.
“Ich habe es ihm noch nicht mitgeteilt“, sagte er.
Tamara sah den Anwalt an und lächelte schwach.
“Ich weiß, weswegen“, entgegnete sie. “Sie wollten erst das Eintreffen der fälligen Apanage abwarten. Das war sehr gütig von Ihnen ... wirklich sehr gütig.“
“Und alles andere als korrekt“, erklärte der Anwalt.
“Müssen wir es ihm denn überhaupt mitteilen?“ fragte Tamara, nachdem sie kurz überlegt hatte.
“Ich fürchte schon“, antwortete Mr. Lawson. “Bei aller Liebe und Fürsorge für die Kinder kann ich meine Lizenz als Anwalt nicht aufs Spiel setzen.“
“Nein, natürlich nicht“, erwiderte Tamara schnell. “Sie waren sowieso schon immer mehr als zuvorkommend. Ich nehme an, daß Sie von meinem Schwager nie