Schöne Tage 1914. Gerhard Jelinek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Jelinek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783902862754
Скачать книгу
stimmte »Großer Gott, wir loben dich« an. Selbstverständlich wurde die erste »Elektrische« an jeder Haltestelle vom örtlichen Bürgermeister begrüßt. »Besonders festlich gestaltete sich der Empfang in Preßburg. Direktionsmitglied Dr. Oberschall brachte in ungarischer Sprache den Königstoast aus, worauf die Kapelle den Radetzky-Marsch und danach O du mein Österreich spielte.« Danach begaben sich die hohen Herren ins Carlton-Hotel, »wo ein Festmahl eingenommen wurde«.21

      29. Jänner 1914 »Wem sagen Sie das!«

      Königin Eleonore von Bulgarien weilte in Wien und warb bei Außenminister Graf Berchtold um Unterstützung für ihren Mann, den bulgarischen König Ferdinand (von Coburg). Der Herr Minister zeigte sich ein wenig indigniert, von der 54-jährigen Königin, einer gebürtigen deutschen Prinzessin Reuß zu Köstritz, in Verlegenheit gebracht zu werden. Wien könne für den bulgarischen König, der ebenso aus deutschem Adel stammte wie sein Kollege aus Albanien, wenig Unterstützung anbieten. Für die deutsche und österreichische Balkanpolitik schien das deutlich mächtigere Rumänien von größerer strategischer Bedeutung. Außenminister Berchtold sagte der Königin unverblümt: Weder habe die deutsche noch die k. u. k. Diplomatie großes Vertrauen in den König. »A qui le ditesvous!«, antwortete Eleonore von Bulgarien seufzend. Das sollte wohl bedeuten: »Wem sagen Sie das!« Die bulgarische Königin musste enttäuscht heim zum Gemahl reisen. Bulgarien kämpfte schließlich doch auf Seiten der Mittelmächte im »Großen Krieg«.

      30. Jänner 1914 »Frankreich tut alles, um Rußland militärisch zu stärken«

      In der russischen Hauptstadt St. Petersburg einigen sich französische und russische Finanzfachleute auf eine französische Anleihe in Höhe von 665 Millionen Francs. Bei einer Laufzeit von 81 Jahren soll dieser Kredit dem Bau strategisch wichtiger Eisenbahnlinien in Russland dienen. Der Abschluss der Anleihe wird am 9. Februar offiziell bestätigt. Die finanzielle Abhängigkeit des Zarenreichs von der französischen Hochfinanz erreicht mit den Eisenbahn-Krediten 1914 einen neuen Höhepunkt. Russland hat sich bei seinem Bündnispartner Frankreich bereits mit 17 Milliarden Francs verschuldet – eine wahrhaft gigantische Summe. Die Regierung in St. Petersburg nutzt viele Millionen des geborgten französischen Geldes, um damit die Zeitungen der »Grande Nation« zu bestechen. Heute würde man diese Praxis als »Kick-back«-Zahlungen verurteilen.

      Beinahe alle führenden Zeitungen des Landes werden aus Geheimfonds beteilt. Der französische Staatspräsident Raymond Poincaré hat direkten Zugriff auf russisches Bestechungsgeld. Er sichert auf diese Weise nicht nur publizistisches Wohlwollen für die Interessen des Verbündeten, sondern nutzt die Korruption auch, um eigene politische Ziele zu verfolgen. Die französische Öffentlichkeit wird systematisch auf einen Konflikt mit dem Deutschen Kaiserreich vorbereitet.

      Die sehr enge französisch-russische Wirtschafts- und Militärzusammenarbeit wurde in Berlin und Wien mit steigendem Argwohn verfolgt, aber nicht nur in in den Hauptstädten der »Mittelmächte«. Auch in Schweden wuchs das Unbehagen an der von Frankreich finanzierten russischen Eisenbahnpolitik. Die Nordländer fürchteten, Russland könne damit in den Westen bis an den Atlantik vorstoßen, um an der norwegischen Küste einen Hafen einzurichten.

      Die Innsbrucker Nachrichten meldeten am 10. Februar, Schweden fürchte um seine Selbstständigkeit und plane sein Heer und seine Marine aufzurüsten. Mehr als Schweden beunruhigte die französische Bahnanleihe die Generalstäbe in Berlin und Wien. Ein massiver Ausbau der Bahnverbindungen hätte die Mobilisierungszeit des russischen Millionen-Heeres von mehreren Monaten auf kaum zwei Wochen drastisch verkürzt, und damit die Reaktionszeit der deutschen Armeeführung auf wenige Tage reduziert.

      Die Eisenbahn war für einen Krieg zum entscheidenden Faktor geworden. Schon im deutsch-französischen Waffengang 1870 konnte die deutsche Heeresführung dank eines guten Schienennetzes fast eine halbe Million Soldaten innerhalb von nur zehn Tagen an die Front bringen. Der deutsche Generalstabschef von Moltke schrieb mehrere Memoranden an Kaiser Wilhelm II. und an die politische Führung: Die Fertigstellung von leistungsfähigen Bahnlinien aus Russland an die deutsche und österreichische Grenze würde die strategische Lage der Mittelmächte unhaltbar machen. Alle Kriegspläne, die zuerst einen raschen Sieg gegen Frankreich und dann erst den Kampf gegen das Zarenreich zur Grundlage hatten, wären Makulatur. Frankreich verfolgte eine klare Strategie. Das 40-Millionen-Einwohner-Land mit einer stagnierenden Geburtenrate und einer geringen wirtschaftlichen Kraft war klar gegenüber dem wachsenden Deutschen Reich zurückgefallen. Die deutsche Industrie und Wirtschaft hatten Frankreichs Industrie längst abgehängt. Russlands scheinbar unerschöpfliche Bevölkerung sollte einen Ausgleich an »Menschenmaterial« gegenüber den Mittelmächten möglich machen. In Berlin und Wien wuchs in den militärischen Planungsbüros die Überzeugung, nur mit einem raschen Krieg könne die empfundene Bedrohung aus dem Osten beseitigt werden. Österreichs Generalstabschef Conrad von Hötzendorf war diesbezüglich eines Sinnes mit seinem Berliner Kollegen Helmuth von Moltke. Beide Militärs glaubten, noch ein wenig Zeit zu haben. Moltke schrieb am 13. März 1914 einen Brief nach Wien: »Frankreich tut alles, um seinen Bundesgenossen Rußland militärisch nach Möglichkeit zu stärken, es wird denselben aber schwerlich in absehbarer Zeit zum Krieg gegen Deutschland treiben.«

      Im Jahr 1914 rechnete Moltke jedenfalls nicht mit einem Angriff auf Deutschland und Österreich-Ungarn.22

      31. Jänner 1914 »Sauglück«

      Emerich Maresch aus Furthof bei Hohenberg in Niederösterreich hatte »Schwein«. Seine gut zwei Jahre alte »Mustersau« aus deutsch-westfälischer Kreuzung brachte bei der Schlachtung exakt 512 Kilo auf die Waage – tot waren es immer noch 452 Kilo. Das Neuigkeits-Welt-Blatt wusste, dass dieses Schwein, »wohl als das schwerste seit langer Zeit in Niederösterreich geschlachtete angesehen werden kann«. Der Wirtshausbesitzer Maresch habe mit seinem Schlachtopfer wirklich ein »Sauglück« gehabt. Immerhin bekam er für jedes Kilo Schweinefleisch 2 Kronen, in Summe 904 Kronen. »Eine Summe, die wirklich ein Unikum darstellt.« Furthof im Bezirk Lilienfeld war um die Jahrhundertwende in der Monarchie eher nicht für seine landwirtschaftlichen Rekorde bekannt, eher schon für seine Metallfeilen. Am wirtschaftlichen Höhepunkt der Produktion stellten mehr als 590 Arbeiter pro Jahr rund drei Millionen »St. Egyder-Feilen« her. Die Fabrik war damit europäischer Marktführer.23

      1. Februar 1914 »Die Zentral-Sparkassa der Gemeinde Wien zahlt vier Prozent Zinsen«

      Die »Zentral-Sparkassa der Gemeinde Wien« veröffentlicht den Monatsausweis ihrer Geschäftstätigkeit. 37 903 Parteien haben im ersten Monat des neuen Jahres 9 065 847 Kronen und 13 Heller eingelegt. Insgesamt verwaltet die städtische Sparkasse anno 1914 knapp 170 Millionen Kronen und hat im Gegenzug 93 Millionen Kronen an Hypothekarkrediten vergeben. Die »Zentral-Sparkassa« zahlt ihren »Parteien« unabhängig von der Einlagenhöhe vier Prozent Zinsen pro Jahr und verrechnet sehr faire viereinhalb Prozent Zinsen für Hypothekarkredite. Die Zinsspanne beträgt also einen halben Prozentpunkt. Anleihen, etwa die des Landes Steiermark oder eine neue »ungarische Rente«, die bei der im Kirchenbesitz stehenden Bank »Schelhammer & Schattera« am Stephansplatz Nr. 11 »subskribiert« werden kann, bringen viereinhalb Prozent Zinsen. Vom »Kuponschneiden« konnten Anleihebesitzer aber kaum nachhaltig leben. Denn die Teuerungsrate – etwa für Lebensmittel – betrug 1911 sieben Prozent. Die allgemeine Inflation lag freilich deutlich darunter. Generell hatte sich das Wachstum der europäischen Volkswirtschaften in den Jahren vor 1914 verlangsamt. Die stürmische industrielle Entwicklung von 1890 bis etwa 1910 hatte für die Arbeiterschaft eine deutliche Verbesserung der Einkommenssituation gebracht, die aber durch die Inflation ab 1911 wieder aufgezehrt werden sollte. Die Realeinkommen der Arbeiter stagnierten. Der sozialistische Theoretiker Otto Bauer schrieb im Frühjahr 1914 eine Analyse für den Kongress der »Sozialistischen Internationale«, der vom 23. bis 29. August in Wien tagen sollte: »Die gewaltige technische Umwälzung, die schnelle Bevölkerungsvermehrung, die beschleunigte Expansion des Kapitalismus und die gesteigerte Goldproduktion — das sind wohl die wichtigsten Ursachen der beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte. Die Arbeiterklasse hat die günstige Konjunktur der letzten Jahrzehnte ausgenützt. Durch die Kraft ihrer Gewerkschaften hat sie sich höhere Löhne erobert. Die Naturalwirtschaft auf dem Lande