Schöne Tage 1914. Gerhard Jelinek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Jelinek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783902862754
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von der Neuen Freien Presse unkommentiert. Aus gutem Grund. Am Beginn des 20. Jahrhunderts konnte Wien durchaus als »Stadt der Millionäre« gelten. Wiens reichster Mann um 1910 war unzweifelhaft Baron Albert Salomon Anselm von Rothschild. Er konnte sich durchaus mit dem Amerikaner Andrew Carnegie vergleichen. Wie der Linzer Wirtschaftswissenschafter Roman Sandgruber vorrechnet, versteuerte der Bankier und Industrielle Rothschild mehr, als die gesamte Hofhaltung des Habsburgischen Herrscherhauses inklusive aller Apanagen und Extravaganzen kostete. Sein Sohn Louis Nathaniel von Rothschild, der 1911 nach dem Tod seines Vaters die Geschäfte übernommen hatte, war kaum weniger reich. Er kontrollierte die Creditanstalt und damit weite Zweige der österreichischen Industrie. Er versteuerte ein größeres Einkommen als die knapp hundert Millionäre aus altem Adel zusammen und galt als reichster Mann Europas. Reichtum wurde nicht verschämt gelebt, sondern offen zur Schau gestellt. Die drei Palais der Rothschilds in der damaligen Heugasse auf der Wieden gegenüber dem Schloss Belvedere, in der heutigen Theresianumgasse und der Plößlgasse, manifestierten den Anspruch des jüdischen Geldadels, auf Augenhöhe mit dem alten Geburtsadel zu leben. Viele Maler, Schriftsteller und Opernstars lebten gut vom Mäzenatentum der Millionäre. Gustav Klimt zählte zu den reichsten Wienern. Arthur Schnitzler, Sigmund Freud, Gustav Mahler konnten als wohlhabend gelten.

      Dabei gab es große soziale Gegensätze und Spannungen. Viele ungelernte Arbeiter verdienten kaum 1200 Kronen pro Jahr. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit lag immer noch bei 60 Stunden. Der Wiener Statistiker Gerhart Bruckmann konnte das krasse Ungleichgewicht der Einkommensverteilung mit einer Namensliste der 929 höchsten Steuerzahler Wiens und Niederösterreichs im Jahr 1910 belegen. Zu den Reichsten der Zwei-Millionen-Stadt zählten das Kaiserhaus, hohe Adelige, Bankleute, Großhändler, Industrielle und ein paar Künstler, einige Witwen und reiche Erbinnen sowie ein (aristokratischer) Kardinal. Die Reichen sind fast immer Männer und zu 60 Prozent jüdisch, zu 10 Prozent aus altem Erbadel. Geld allein sichert aber noch keine gesellschaftliche Anerkennung. Baron Rothschild – immerhin – wird bei der Hofgesellschaft zugelassen, einen Händedruck des Kaisers kann sich der reichste Mann Europas aber nicht kaufen.20

      25. Jänner 1914 »Das rücksichtslose Gebaren vieler Kutscher ist eine schwere Sorge für die Chauffeure«

      In Wien streiken die Drucker schon seit fast zwei Monaten. Sie fordern höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten. Die Allgemeine Sport-Zeitung, eine »Wochenschrift für alle Sportzweige«, kann nur in einer Notausgabe erscheinen. Immerhin wird dem geneigten Publikum das Jahresprogramm des »Jockey-Clubs« präsentiert. Aktuelle Sportergebnisse müssen ausgeblendet bleiben, weil offenbar nicht nur die Drucker, sondern auch die Setzer streiken. Dafür beschäftigt sich Victor Silberer, Herausgeber des Buches Die Wiener Autonummern 1914 (zum Preis von 3 Kronen in »hochelegantem Sporteinband« erhältlich) mit den Unsitten auf Wiens Straßen. Das Verhältnis zwischen den vielen Kutschen und den (noch) wenigen Automobilen dürfte damals ähnlich freundschaftlich gewesen sein wie heute das Zusammenleben von Autos und Fahrrädern. Die Kutscher scheren sich einen Rossknödel um die geltende Straßenverkehrsordnung: »Wie beim Umkehren benehmen sich viele der Herren Rosselenker auch beim Einbiegen in eine rechtsseitige Straße. Sie geben auch da keinerlei Signale, weder den von vorne auf sie zukommenden Wagen, noch dem von rückwärts herannahenden Wagen, das fällt ihnen gar nicht ein.« Herr Silberer steht auf Seiten der Moderne und das ist in diesen Tagen das Automobil. »Ein solches Fahren ist aber nicht nur eine arge Störung eines geregelten Straßenverkehrs, sondern auch in jedem einzelnen Falle eine große Gefährdung des schnellen Wagens und seiner Insassen. Das rücksichtslose Gebaren vieler Kutscher ist eine schwere Sorge für die Chauffeure und die ihnen anvertrauten Wagen und Passagiere.«

       Vorrang für den Nummernadel: Das Verzeichnis aller Wiener Autobesitzer für 1914. Das Kennzeichen mit der Nummer »A 4« schmückt den Wagen von Thronfolger Franz Ferdinand. Wiens reichster Mann, Baron Alfons Rothschild, fährt mit dem Kennzeichen »A 56«.

      Aus dieser – wahrscheinlich zu Recht – geschriebenen Anklage gegen die Kutscher, denen ja der Ruf eines eher groben Umgangs nachhing, entnimmt der Leser eine weitere wichtige Information. Vornehme Menschen und Funktionen werden mit französischen Namen beschrieben. Hie der »Rosselenker«, da der »Chauffeur«, für Letzteren gibt es auch keinen Regenmantel gegen die Wetterunbill, sondern einen »Paraplui de Chauffeur«, den der automobile Leser der Sport-Zeitung um 28 Kronen beim k. u. k. Hoflieferanten Jakob Rothberger am Stephansplatz Nr. 9 erwerben kann. Ein stilechter Lederrock für den Automobilisten kostet schon 48 Kronen und die dazu passende Lederhose noch einmal 30 Kronen. Nach gängiger Umrechnungsformel »1 Krone 1914 entspricht 5 Euro 2014« würde das etwa dem Preis von 530 Euro entsprechen. Entweder war Bekleidung damals extrem günstig oder die Umrechnungsrelation ist falsch.

      27. Jänner 1914 »Mit der Elektrischen nach Preßburg«

      Gut Ding braucht Weile. Kein anderes Sprichwort ist so wienerisch. Am Donnerstag, den 27. Jänner, versammeln sich Hunderte Passanten bei der Großmarkthalle nächst dem Hauptzollamt, um die neueste technische Errungenschaft der Residenzstadt Wien zu bestaunen. Die Direktion der »Niederösterreichischen Landesbahnen« hat Journalisten zu einer Probefahrt mit der neuen »Elektrischen« nach Pressburg geladen. Der Lokalreporter der Illustrierten Kronen-Zeitung besteigt einen der zwei »hübsch aussehenden Waggons« und beschreibt für seine Leser jedes Wegstück der neuen Trasse. »Der Zug fährt beim Gebäude der Donaudampfschiffahrtsgesellschaft vorbei und der Portier grüßt lächelnd den Motorwagenführer der neuen Konkurrenz. Man fährt unterhalb der Franzensbrücke, überall bleiben Passanten stehen, und auf der Erdbergerlände gibt ein alter Mann ein Zeichen, daß er einsteigen will. Er scheint die Elektrische Wien–Preßburg noch nicht zu kennen.« Die neue Direktverbindung von Wien ins – damals ungarische – Pressburg war 16 Jahre lang geplant worden. Die Verwirklichung der Eisenbahnverbindung scheiterte immer wieder an politischen Querschüssen. Die ungarische Reichshälfte und Niederösterreich sollten nicht zu eng verbunden sein. »Daß es so lange gedauert hat, hat seine guten, oder wenn man will, schlechten Gründe gehabt«, klagt der Kronen-Zeitung-Redakteur: »Es war die leidige Politik, die sich dem Bau hindernd entgegenstellte. Die Eisenbahn verbindet Städte, die Elektrische schmiedet und kettet sie aneinander, die Elektrische ist ein kräftigeres Band als die Eisenbahn, und in Ungarn hat man Befürchtungen gehegt, daß Preßburg, die alte Krönungsstadt der ungarischen Könige, durch die neue Verkehrsader viel zu stark nach Wien hinstreben könnte.« Die ungarischen Ängste werden sich als unbegründet erweisen. Kaum fünf Jahre später gehört Pressburg nicht mehr zum Königreich Ungarn, sondern zur neuen Tschechoslowakischen Republik, und die »Preßburger Bahn« ist bald Geschichte. Die neue europäische Nachkriegsordnung wird Passkontrollen einführen und im revolutionären Überschwang Eisenbahnschienen entfernen.

      Im kalten Jänner 1914 herrscht freilich noch Freude über den direkten Schienenweg zum Nachbarn. Die »Preßburger« ist dennoch Abbild eines an seiner eigenen Komplexität erstickenden Gebildes, das zwar ein Reich, aber kein Staat sein wollte. Auf der kaum 70 Kilometer langen Strecke mussten zweimal die Lokomotiven gewechselt werden. Im Wiener Stadtgebiet fuhr die »Elektrische« mit Gleichstrom und nur 700 Volt Spannung, außerhalb der Stadtgrenze wurde der Zugwagen mit Wechselstrom und 16 000 Volt betrieben. Die letzten 7 Kilometer auf ungarischem Reichsgebiet fuhr der Zug wieder mit Gleichstrom. Zum Betrieb der Bahn mussten gleich zwei Gesellschaften gegründet werden (eine österreichische, eine ungarische). Immerhin fuhren schließlich bis zu elf Zugpaare auf der Strecke. Von Wien bis Pressburg benötigte die »Elektrische« gute zweieinviertel Stunden. Da blieb für den Kronen-Zeitung-Journalisten ausreichend Zeit, Betrachtungen über Land und Leute anzustellen. »Über Petronell ziehen Wildgänse in den Lüften dahin. Das malerisch gelegene Hainburg wird von der neuen Elektrischen sehr profitieren, denn es ist wahrscheinlich, daß die meisten Ausflügler in Hainburg Station machen werden.« An einen Pendler- oder Wirtschaftsverkehr dürften die Bahnplaner nicht gedacht haben. »Daß die Elektrische bei einem sicheren Verkehr eine große Zukunft haben wird, ist sicher. Schon für die nächsten Monate haben zahlreiche Vereine Sonderfahrten angemeldet. Vom n.ö. Gewerbeverein allein werden etwa 1000 Mitglieder den schönen und lohnenden Ausflug nach Preßburg unternehmen.«