Endlich öffnete sich die Tür, und sein Bedienter trat ein. Er wandte ihm seine gläsernen Augen zu.
»Herr Campbell, gnädiger Herr«, sagte der Mann.
Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen Lippen und die Farbe kehrte in seine Wangen zurück.
»Bitten Sie ihn sofort herein, Francis.« Er fühlte, daß er wieder er selbst war. Der Anfall von Feigheit war überwunden.
Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen Augenblicken trat Alan Campbell ein, mit sehr strengem Gesicht und etwas bleich, und seine blasse Farbe wurde durch das kohlschwarze Haar und die dunkeln Brauen noch verstärkt.
»Alan! das ist freundlich von dir. Ich danke dir, daß du gekommen bist.«
»Ich hatte die Absicht, dein Haus nie wieder zu betreten, Gray. Aber du schriebst, es handle sich um Leben und Tod.« Seine Stimme war hart und kalt. Er sprach langsam und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in dem festen, forschenden Blick, den er auf Dorian richtete. Er behielt die Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes und schien die Bewegung, mit der ihm die Hand entgegengestreckt worden war, nicht zu bemerken.
»Ja, es handelt sich um Leben und Tod, und für mehr als einen Menschen, Alan. Setze dich.«
Campbell nahm einen Stuhl am Tisch, und Dorian setzte sich ihm gegenüber. Die Augen der beiden Männer trafen sich. In denen Dorians lag unendliches Mitleid. Er wußte, was er jetzt tun werde, war schrecklich.
Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens beugte er sich nach vorn und sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes Wortes auf dem Gesicht des Mannes ablesend, den er hatte holen lassen: »Alan, in einem verschlossenen Dachzimmer dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein einziger Mensch außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann an einem Tisch. Er ist jetzt seit zehn Stunden tot. Bleib' ruhig sitzen und sieh mich nicht so an. Wer der Mann ist, warum er starb, wie er starb, sind Dinge, die dich nicht kümmern. Was du zu tun hast, ist –«
»Halt, Gray! Ich will nichts mehr wissen. Ob das, was du mir gesagt hast, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an. Ich lehne es entschieden ab, in dein Leben verwickelt zu werden. Behalte deine fürchterlichen Geheimnisse für dich! Sie interessieren mich nicht mehr.«
»Alan, du wirst dafür Interesse haben müssen. Dies eine Geheimnis wird dich interessieren müssen. Es tut mir furchtbar leid um dich, Alan. Aber ich kann dir nicht helfen. Du bist der einzige Mensch, der mich zu retten vermag. Ich bin gezwungen, dich in die Sache hineinzuziehen. Ich habe keine Wahl. Alan, du bist ein Mann der Naturwissenschaft. Du verstehst dich auf Chemie und diese Dinge. Du hast Experimente gemacht. Was du zu tun hast, ist, das Wesen da oben zu vernichten, so zu vernichten, daß auch nicht eine Spur davon übrigbleibt. Niemand hat diesen Menschen in mein Haus kommen sehen. Man vermutet ihn im Augenblick in Paris. Monatelang wird er nicht vermißt werden. Wenn er vermißt wird, darf hier keine Spur von ihm gefunden werden. Alan, du mußt ihn, ihn und alles, was zu ihm gehört, in eine Handvoll Asche verwandeln, die ich in die Luft streuen kann.«
»Du bist wahnsinnig, Dorian.«
»Ah! wie ich darauf gewartet habe, daß du mich wieder Dorian nennst.«
»Du bist wahnsinnig, sag' ich dir – wahnsinnig, daß du dir einbildest, ich würde auch nur einen Finger rühren, dir zu helfen, wahnsinnig, daß du mir dieses ungeheuerliche Geständnis ablegst. Ich will damit nichts zu tun haben, was es auch sei. Glaubst du, ich setze meine Ehre für dich aufs Spiel? Was geht's mich an, mit welchem Teufelswerk du zu tun hast.«
»Es war ein Selbstmord, Alan.«
»Das freut mich, aber wer hat ihn dazu getrieben? Du, vermute ich.«
»Weigerst du dich noch immer, das für mich zu tun?«
»Natürlich weigere ich mich. Ich will absolut nichts damit zu schaffen haben. Es liegt mir gar nichts daran, was für eine Schande über dich kommt. Du verdienst es vollauf. Es würde mir nicht leid tun, wenn ich dich entehrt, öffentlich entehrt sähe. Wie kannst du es wagen, mich, gerade mich von allen Menschen in der Welt in diese Scheußlichkeit hineinbringen zu wollen? Ich hätte geglaubt, du verstandest mehr vom Charakter der Menschen. Dein Freund, Lord Henry Wotton, kann dich nicht sehr über Psychologie aufgeklärt haben, worüber er dich auch sonst aufgeklärt hat. Nichts wird mich dazu vermögen, auch nur einen Schritt zu tun, um dir zu helfen. Du bist an den falschen Mann gekommen. Geh zu einem deiner Freunde, nicht zu mir.«
»Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Du weißt nicht, was ich durch ihn gelitten habe. Mein Leben mag sein, wie es wolle, er hatte mehr damit zu tun, es zu erschaffen und zu zerstören, als der arme Harry. Er mag es nicht gewollt haben, die Wirkung ist dieselbe.«
»Mord! Guter Gott, Dorian, bist du jetzt soweit gekommen? Ich werde dich nicht anzeigen. Das ist meines Amtes nicht. Im übrigen wird man dich fassen, auch wenn ich mich nicht in die Sache mische. Niemand begeht ein Verbrechen, ohne dabei eine Dummheit zu machen. Also ich will nichts damit zu tun haben.«
»Du mußt etwas damit zu tun haben. Warte, warte noch einen Augenblick; hör' mich an. Nur anhören, Alan. Alles, was ich von dir verlange, ist ein bestimmtes wissenschaftliches Experiment. Du gehst in Spitäler und Leichenhäuser, und das Schreckliche, was du dort tust, rührt dich nicht. Wenn du diesen Mann in irgendeinem gräßlichen Seziersaal oder in einem mißduftenden Laboratorium auf einem rohen Tisch liegen sähest, mit roten Röhren, die man in ihn hineingebohrt hat, damit daraus das Blut durchfließen kann, dann würdest du ihn einfach als ein bewundernswertes Objekt betrachten. Kein Härchen würde sich dir sträuben. Du hättest nicht die Empfindung, irgend etwas Unrechtes zu tun. Im Gegenteil, du würdest wahrscheinlich glauben, der Menschheit eine Wohltat zu erweisen, oder die Summe des menschlichen Wissens zu vermehren oder den intellektuellen Wissensdrang zu befriedigen oder so etwas dergleichen. Was ich von dir fordere, ist nichts anderes, als was du schon oft getan hast. Wahrhaftig, es muß viel weniger gräßlich sein, einen Leichnam aus der Welt zu schaffen, als das, was du gewöhnlich tust. Und bedenke, es ist der einzige Beweis gegen mich. Wenn er entdeckt wird, bin ich verloren; und er muß sicher entdeckt werden, wenn du mir nicht hilfst.«
»Ich habe keine Lust, dir zu helfen. Du vergißt das. Die ganze Sache ist mir gleichgültig. Ich habe nichts damit zu tun.«
»Alan, ich beschwöre dich. Denke an die Lage, in der ich bin. Jetzt eben, ehe du kamst, war ich fast ohnmächtig vor Schreck. Du kannst eines Tages selbst einmal die Angst kennenlernen. Nein, denke nicht daran! Betrachte die Sache vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus. Du forschst doch sonst nicht danach, woher die toten Wesen kommen, mit denen du experimentierst. Forsche auch jetzt nicht danach. Ich habe dir ohnehin zuviel gesagt. Aber ich bitte dich, tu, um was ich dich bat. Wir waren doch einmal Freunde, Alan.«
»Sprich nicht von jenen Tagen, Dorian; sie sind tot.«
»Die Toten verweilen manchmal. Der Mann da oben geht nicht weg. Er sitzt am Tisch mit vorgebeugtem Kopf und ausgestreckten Armen. Alan! Alan! wenn du mir nicht zu Hilfe kommst, bin ich verloren. Alan! man wird mich hängen! Begreifst du nicht? Man wird mich hängen, für das, was ich getan habe.«
»Es hat keinen Sinn, diese Szene weiter auszudehnen. Ich weigere mich ganz entschieden, etwas damit zu tun zu haben. Es ist Tollheit von dir, mich darum zu bitten.«
»Du weigerst dich?«
»Ja!«
»Ich beschwöre dich, Alan!«
»Es ist nutzlos.«
Derselbe mitleidige Ausdruck kam in Dorian