Er konnte nichts hören, als das Tropf-Tropf auf den fadenscheinigen Teppich. Er öffnete die Tür und ging bis an den Treppenabsatz. Das Haus war vollständig ruhig. Niemand war wach. Über das Geländer gebeugt, stand er ein paar Augenblicke da und forschte hinab in den schwarzen brodelnden Schacht von Dunkelheit. Dann zog er den Schlüssel ab, ging in das Zimmer zurück und schloß sich darin ein.
Das Wesen saß noch immer in dem Stuhl und hing mit gebeugtem Kopf und gekrümmtem Rücken und langen phantastischen Armen über den Tisch. Wäre nicht der rote, klaffende Riß im Nacken gewesen und die dunkle, geronnene Lache, die sich nach und nach auf dem Tisch vergrößerte, so hätte man glauben können, der Mann schlafe nur.
Wie schnell das alles geschehen war! Er fühlte sich merkwürdig ruhig, ging zur Balkontür, öffnete sie und trat hinaus. Der Wind hatte die Nebeltücher auseinandergeblasen, und der Himmel sah aus wie der Schweif eines ungeheuren Pfaus, der mit Myriaden goldener Augen bestirnt war. Er blickte hinab und sah, wie der Polizist seine Runde machte und das lange Streiflicht seiner Laterne über die Türen der schweigsamen Häuser gleiten ließ. Das rotgelbe Licht einer vorbeitrödelnden Droschke glomm an der Straßenecke auf und verschwand wieder. Ein Weib in einem flatternden Kopftuch schob sich langsam am Gitter des Platzes vorbei und taumelte im Gehen. Dann und wann stand sie still und sah zurück. Auf einmal begann sie mit heiserer Stimme zu singen. Der Schutzmann schlenderte über den Damm her und sagte etwas zu ihr. Sie humpelte lachend weiter. Ein scharfer Luftzug fegte über den Platz. Die Gasflammen zuckten und wurden blau, und die entlaubten Bäume schüttelten ihr schwarzes Geäste hin und her, das wie ein Eisengeflecht aussah. Ihn fröstelte und er trat, das Fenster schließend, wieder zurück.
Als er bei der Türe war, drehte er den Schlüssel und öffnete sie. Er blickte den Ermordeten mit keinem Blicke mehr an. Er empfand, daß das Geheimnis der ganzen Sache darin beruhe, sich die Sachlage nicht zu vergegenwärtigen. Der Freund, der das verhängnisvolle Bild gemalt hatte, von dem all sein Elend herrührte, war aus seinem Leben verschwunden. Das war genug.
Dann fiel ihm die Lampe ein. Es war eine ziemlich merkwürdige maurische Arbeit, mattes Silber mit eingelegten Arabesken aus dunkelpoliertem Stahl und besetzt mit ungeschliffenen Türkisen. Sie mochte vielleicht von seinem Diener vermißt werden und er könnte danach fragen. Er zögerte einen Augenblick, dann ging er zurück und nahm sie vom Tisch. Dabei mußte er die tote Gestalt sehen. Wie ruhig sie war! Wie furchtbar weiß die langen Hände aussahen! Es schien eine gräßliche Wachsfigur zu sein.
Er schloß die Türe hinter sich und schlich langsam die Treppe hinunter. Das Holz knarrte und schien wie vor Schmerz aufzustöhnen. Er blieb einige Male stehen und wartete. Nein, alles war still. Er hörte nur den Widerhall seiner eigenen Schritte.
Als er in seinem Bibliothekszimmer war, erblickte er die Tasche und den Rock in der Ecke. Die mußten irgendwo verborgen werden. Er öffnete einen Geheimschrank, der in der Holztäfelung war, in dem er seine eigenen Verkleidungen aufbewahrte, und schob die Sachen hinein. Er konnte sie später leicht einmal verbrennen. Dann zog er seine Uhr. Es war zwanzig Minuten vor zwei.
Er setzte sich und begann nachzudenken. Jahr für Jahr – fast jeden Monat – werden in England Leute gehenkt für so etwas, wie er soeben getan hatte. Irgendeine wahnwitzige Mordlust hatte in der Luft gelegen. Irgendein blutroter Stern war der Erde zu nahe gekommen ... Und doch, wie wollte man es ihm beweisen? Basil Hallward hatte das Haus um elf Uhr verlassen. Niemand hatte ihn noch einmal wiederkommen sehen. Die meisten Diener waren in Selby Royal. Sein eigener Diener war schlafen gegangen ... Paris! Ja. Basil war nach Paris gefahren, und zwar mit dem Mitternachtszug, wie es seine Absicht gewesen war. Bei seinen merkwürdigen Gewohnheiten, sich zurückzuziehen, würden Monate vergehen, bevor irgendein Verdacht entstehen würde. Monate! Alle Spuren konnten lange vorher getilgt sein.
Ein plötzlicher Einfall durchzuckte ihn. Er zog seinen Pelz an, setzte seinen Hut auf und ging in die Vorhalle hinaus. Dort blieb er stehen, weil er den langsamen, schweren Tritt des Schutzmanns draußen auf dem Pflaster hörte und den tanzenden Widerschein seiner Blendlaterne im Türfenster sah. Er wartete und hielt den Atem an.
Nach einigen Augenblicken schob er den Riegel zurück und schlüpfte hinaus, das Tor ganz leise hinter sich schließend. Dann zog er die Klingel. Nach etwa fünf Minuten erschien sein Diener, halb angezogen und sehr verschlafen.
»Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis«, sagte er eintretend und ging die Stufen hinauf; »aber ich habe meinen Hausschlüssel vergessen. Wieviel Uhr ist es?«
»Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr«, sagte der Mann mit einem blinzelnden Blick auf die Uhr.
»Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie müssen mich morgen um neun Uhr wecken. Ich habe zu tun.«
»Zu Befehl, gnädiger Herr.«
»War jemand heute abend hier?«
»Herr Hallward, gnädiger Herr. Er hat hier bis elf Uhr gewartet und ging dann, um seinen Zug nicht zu versäumen.«
»Es tut mir leid, daß ich ihn nicht getroffen habe. Sollen Sie mir etwas bestellen?«
»Nein, gnädiger Herr, nur, daß er von Paris schreiben würde, wenn er Sie im Klub nicht treffen sollte.«
»Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen um neun zu wecken.«
»Nein, gnädiger Herr!«
Der Mann schlurfte in seinen Pantoffeln durch den Torweg die Dienertreppe hinab.
Dorian Gray warf Hut und Stock auf den Tisch und trat ins Bücherzimmer. Eine Viertelstunde lang ging er auf und ab, biß sich auf die Lippen und grübelte. Dann nahm er das blaue Adreßbuch von einem Regal und begann zu blättern. »Alan Campbell, Hertford Street 152, Mayfair.« Ja, das war der Mann, den er brauchte.
VIERZEHNTES KAPITEL
Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener mit einer Tasse Schokolade auf einem Servierbrett herein und öffnete die Fensterläden. Dorian lag auf der rechten Seite, eine Hand unter seiner Wange und schlief ganz friedlich. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder Lernen müde geworden ist.
Der Mann mußte ihn zweimal an der Schulter berühren, bevor er aufwachte, und als er die Augen öffnete, huschte ein leichtes Lächeln über seine Lippen, als wäre er von einem entzückenden Traum befangen gewesen. Aber er hatte gar nicht geträumt. Seine Nacht war weder von Bildern der Freude noch des Grauens gestört worden. Doch die Jugend lächelt ohne Grund. Das ist einer ihrer besonderen Reize.
Er drehte sich um, stützte sich auf den Ellbogen und begann seine Schokolade zu schlürfen. Die matte Novembersonne strömte in das Zimmer. Der Himmel war wolkenlos, eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war fast wie ein Maimorgen.
Allmählich schlichen die Vorgänge der vergangenen Nacht auf lautlosen, blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn und bauten sich dort mit furchtbarer Deutlichkeit wieder auf. Er erschauerte bei dem Gedächtnis an alles, was er durchlitten hatte, und einen Augenblick lang kehrte in ihm derselbe sonderbare Haß auf Basil Hallward zurück, der ihn dazu getrieben hatte, ihn zu töten, als er im Stuhl saß, er wurde kalt vor Wut. Der Tote saß noch immer da oben und jetzt dazu im Sonnenlicht. Wie schrecklich das war! So gräßliche Dinge gehörten in die Dunkelheit, nicht an den Tag.
Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig würde, wenn er über das brütete, was er hinter sich hatte. Es gibt Sünden, deren Reiz mehr in der Erinnerung liegt als in der Begehung, seltsame Siege, die mehr dem Stolz Genüge tun als der Leidenschaft und die dem Geist ein Lustgefühl geben, das stärker ist als jede Wonne, die sie Sinnen verschaffen oder jemals verschaffen können. Aber diesmal war es keine von diesen. Dies war eine, die man aus dem Geiste verjagen, die man mit