»Mein Wort, Dorian, Fräulein Sibyl versteht es, Schmeicheleien zu sagen.«
»Du verstehst sie nicht, Harry. Sie betrachtete mich nur wie eine Figur in einem Theaterstück. Sie weiß gar nichts vom Leben. Sie wohnt bei ihrer Mutter, einer verblühten, ältlichen Frau, die am ersten Abend in einer Art türkisch-rotem Schlafrock die Lady Capulet spielte und den Eindruck machte, als hätte sie bessere Tage gesehen.«
»Ich kenne diese Art, auszusehen. Sie stimmt mich unbehaglich«, sagte Lord Henry mit verhaltener Stimme und betrachtete seine Ringe.
»Der Jude wollte mir ihre Lebensgeschichte erzählen, aber ich bemerkte, sie interessiere mich nicht.«
»Da hattest du recht. Die Tragödien anderer Leute haben immer etwas unglaublich Gewöhnliches an sich.«
»Sibyl ist das einzige, um das ich mich kümmere. Was geht's mich an, woher sie stammt? Von ihrem kleinen Kopf bis zu ihrem kleinen Fuß ist sie ein himmlisches Wesen. Jeden Abend, den ich erlebe, gehe ich hin, um sie spielen zu sehen, und jeden Abend ist sie entzückender.«
»Ich vermute darin den Grund, weshalb du jetzt nie mehr mit mir zusammen ißt. Ich dachte mir gleich, daß dahinter irgendeine merkwürdige Geschichte stecke. Das ist so, aber es ist nicht ganz, was ich erwartete.«
»Lieber Harry, wir sind jeden Tag entweder beim Frühstück oder beim Abendessen zusammen, und ich bin mehrere Male mit dir in der Oper gewesen«, sagte Dorian und öffnete verwundert seine blauen Augen.
»Du kommst immer furchtbar spät.«
»Ja, ich muß hin und Sibyl spielen sehen, und wenn auch nur einen Akt lang. Ich hungere nach ihrem Anblick, und wenn ich an die himmlische Seele denke, die in diesem zierlichen Elfenbeinkörper eingeschlossen ist, packt mich stille Ehrfurcht.«
»Kannst du heute abend mit mir essen, Dorian?«
Er schüttelte den Kopf. »Heute abend ist sie Imogen,« antwortete er, »und morgen abend Julia.«
»Wann ist sie Sibyl Vane?«
»Nie!«
»Da wünsche ich dir Glück.«
»Wie schrecklich du bist! Sie verkörpert alle die großen Frauengestalten der Weltgeschichte in sich. Sie ist mehr als ein Geschöpf. Du lachst, aber ich sage dir, sie ist ein Genie. Ich liebe sie und ich will's erreichen, daß sie mich auch liebt. Dir sind alle Geheimnisse des Lebens bekannt, du mußt mir sagen, wie ich Sibyl Vane so bezaubern kann, daß sie mich liebt. Ich will Romeo eifersüchtig machen. Ich will, daß die toten Liebhaber der Welt unser Lachen hören und sich grämen. Ich will, daß unsere strahlende Leidenschaft ihren Staub wieder beleben und ihre Asche zu Schmerzen auferwecken soll. O Gott, Harry, wie bete ich sie an!« Er ging, während er sprach, im Zimmer auf und ab. Rote hektische Flecken brannten auf seinen Wangen. Er war furchtbar erregt.
Lord Henry betrachtete ihn mit stillem Wohlbehagen. Wie anders war er jetzt als jener verlegene, schüchterne Knabe, den er in Basil Hallwards Atelier angetroffen hatte! Seine Natur hatte sich entwickelt wie eine Blume und trug Blüten von brennendrotem Scharlach. Aus ihrem geheimen Versteck war seine Seele hervorgekrochen, und die Wollust war ihr auf halbem Wege entgegengekommen.
»Und was hast du nun vor?« sagte Lord Henry schließlich.
»Ich will, du und Basil sollt mich an einem Abend begleiten und sie spielen sehen. Ich setze nicht die leiseste Besorgnis in die Wirkung. Ihr werdet zugeben müssen, daß sie Genie hat. Dann müssen wir sie dem Juden aus den Händen winden. Sie ist noch drei Jahre – genau zwei Jahre und acht Monate – an ihn gebunden. Natürlich werde ich ihm etwas zahlen müssen. Wenn das alles in Ordnung ist, suche ich mir ein Theater im Westend und lasse sie dort erst mal richtig auftreten. Sie wird die Welt ebenso verrückt machen wie mich.«
»Das wird kaum gehen, lieber Junge.«
»Ja, sie wird es; denn in ihr ist nicht nur Kunst, vollendetster Kunstinstinkt, sondern sie hat auch Persönlichkeit; und du selbst hast mir oft genug gesagt, daß nur Persönlichkeiten, nicht Prinzipien die Welt beherrschen.«
»Schön, wann sollen mir also hingehen?«
»Laß mich mal nachdenken. Heute ist Dienstag. Wollen wir morgen festsetzen? Morgen spielt sie die Julia.«
»Abgemacht! Morgen um acht im Bristol. Ich werde Basil mitbringen.«
»Bitte, nicht um acht Uhr, Harry. Halbsieben. Wir müssen dort sein, ehe der Vorhang aufgeht. Du mußt sie im ersten Akt bei der Begegnung mit Romeo sehen.«
»Halbsieben Uhr! Was für eine Tageszeit! Das wäre ja gerade so, wie am Nachmittag Abendbrot essen oder einen englischen Roman lesen. Vor sieben Uhr geht's nicht. Kein Gentleman speist vor sieben. Siehst du Basil bis dahin? Oder soll ich ihm schreiben?«
»Der liebe Basil! Ich habe mich eine ganze Woche lang nicht um ihn gekümmert. Das ist sehr häßlich von mir, denn er hat mir mein Porträt in einem prachtvollen Rahmen, den er selbst entworfen hat, geschickt, und obwohl ich ein bißchen eifersüchtig auf das Bild bin, weil es einen ganzen Monat jünger ist als ich, muß ich doch zugeben, daß es mich ganz entzückt. Ich bitte, schreib lieber. Ich möchte ihn nicht allein wiedersehen. Er sagt mir Dinge, die mich verstimmen. Er gibt mir gute Lehren.«
Lord Henry lächelte. »Die Menschen haben eine starke Vorliebe, das wegzuschenken, was sie selber am nötigsten hätten. Ich nenne das den Chimborasso Freigebigkeit.«
»Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir doch ein klein bißchen Philister zu sein. Seit ich dich kenne, Harry, hab' ich das entdeckt.«
»Basil, mein lieber Junge, tränkt seine Werke mit allem, was an ihm entzückend ist. Die Folge ist, daß ihm fürs Leben nichts übrigbleibt als seine Vorurteile, seine Grundsätze und sein gesunder Menschenverstand. Alle Künstler, die ich kennengelernt habe, und die persönlich von Anziehungskraft sind, waren schlechte Künstler. Gute Künstler leben nur in ihren Schöpfungen und sind daher im Leben vollständig uninteressant. Ein großer Dichter, ein wirklich großer Dichter ist das unpoetischste Geschöpf von der Welt. Aber untergeordnete Dichter bezaubern immer. Je schlechter ihre Reime sind, desto malerischer ist ihr Aussehen. Die bloße Tatsache, eine Sammlung mittelmäßiger Sonette veröffentlicht zu haben, macht solchen Menschen einfach unwiderstehlich. Er lebt die Poesie, die er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Poesie, die sie nicht zu leben wagen.«
»Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Harry«, sagte Dorian Gray, der inzwischen aus einem großen goldgefaßten Flakon auf dem Tische etwas Parfüm auf sein Taschentuch gegossen hatte. »Es wird wohl sein, wenn du es sagst. Jetzt aber muß ich fort. Imogen wartet auf mich. Vergiß nicht, morgen! Adieu!«
Als er das Zimmer verlassen hatte, schloß Lord Henry die schweren Lider und begann nachzudenken. Gewiß hatten ihn wenige Menschen bisher so interessiert wie Dorian Gray, und doch verursachte ihm die wahnsinnige Leidenschaft des Jünglings für eine andere Person nicht im entferntesten Ärger oder Eifersucht. Es freute ihn. Dorian wurde dadurch nur noch interessanter. Die Methoden der Naturwissenschaft hatten ihn immer entzückt, aber der gewöhnliche Gegenstand dieser Wissenschaft war ihm kleinlich und belanglos erschienen, und so hatte er begonnen, sich selbst zu vivisezieren und hatte damit geendet, andere zu vivisezieren. Das Menschenleben – das schien ihm der einzige einer Untersuchung weite Gegenstand. Verglichen damit war alles andere ohne jegliche Bedeutung. Freilich, wenn man das Leben in dem seltsamen Schmelztiegel des Schmerzes und der Lust beobachtete, konnte man keine Glasmaske über dem Gesicht tragen, konnte auch nicht die Schwefeldämpfe abhalten, die einem das Gehirn verwirrten und die Phantasie mit monströsen Ausgeburten und mißratenen Träumen umwirbelten. Es gab so seine Gifte, daß man an ihnen erkrankt sein mußte, um ihre Eigenheiten zu kennen.