»Sie halten sich nicht, hat man mir gesagt«, brummte der Onkel.
»Ein langes Verlobtsein erschöpft sie, aber für eine Steeplechase sind sie brillant. Sie sind Flieger. Ich glaube nicht, daß Dartmoor Chance hat.«
»Was ist's für eine Familie?« murrte der alte Herr. »Hat sie überhaupt eine?«
Lord Henry schüttelte den Kopf. »Amerikanische Mädchen sind ebenso klug, ihre Eltern zu verbergen, wie englische Frauen im Verbergen ihrer Vergangenheit«, antwortete er und stand auf, um wegzugehen.
»Also vermutlich Schweinefleischhändler.«
»Das hoffe ich, Onkel Georg, in Dartmoors Interesse. Man hat mir gesagt, mit Schweinefleischbüchsen zu handeln, soll nächst der Politik der einträglichste Beruf in Amerika sein.«
»Ist sie hübsch?«
»Sie benimmt sich so, als wäre sie es. Das tun die meisten Amerikanerinnen. Es ist das Geheimnis ihres magnetischen Reizes.«
»Warum bleiben diese amerikanischen Weiber nicht in ihrem Lande? Sie sagen doch immer, es sei das Paradies für Frauen.«
»Das ist es auch. Und das ist auch der Grund, warum sie wie Eva so gern daraus weg wollen«, sagte Lord Henry. »Adieu, Onkel Georg! Ich komme zu spät zum Frühstück, wenn ich noch länger bleibe. Danke sehr für die Auskunft, die du mir gabst. Ich habe immer das Bedürfnis, von meinen neuen Freunden alles zu hören und möglichst nichts von meinen alten.«
»Wo wirst du frühstücken, Harry?«
»Bei Tante Agatha. Ich habe mich mit Herrn Gray dort angesagt. Er ist ihr neuestes Protektionskind.«
»Hm! sag' der Tante Agatha, Harry, sie soll mich mit ihrem Wohltätigkeitskrempel ungeschoren lassen. Ich habe sie bis hierher! Weiß Gott, das gute Frauenzimmer meint, ich hätte nichts zu tun als Schecks für ihre langweiligen Vereinsmeiereien auszuschreiben.«
»Abgemacht, Onkel Georg, ich werde es ihr bestellen, aber es wird nichts nutzen. Wohltätigkeitsmegären verlieren alle Menschlichkeit. Das ist ihr hervorstechendstes Merkmal.«
Der alte Herr brummte zustimmend und klingelte seinem Diener. Lord Henry schritt durch die niedrigen Arkaden nach Burlington Street und lenkte dann seine Schritte in die Richtung nach Berkeley Square.
Das war also die Geschichte von Dorian Grays Eltern. So roh umrissen sie ihm auch geschildert worden war, sie hatte ihn doch nach Art eines seltsamen, geradezu modernen Romans erregt. Eine schöne Frau, die alles für eine wahnsinnige Leidenschaft einsetzt. Ein paar wilde, wonnige Wochen, jäh abgeschnitten durch ein abscheuliches, heimtückisches Verbrechen, Monate stummer Todesverzweiflung, und dann ein Kind unter Schmerzen geboren. Die Mutter vom Tode weggemäht, der Knabe der Einsamkeit und der Tyrannei eines alten, lieblosen Mannes ausgeliefert. Ja, das war ein interessanter Hintergrund. Er gab dem jungen Menschen Relief, machte ihn noch vollkommener. Hinter allem Köstlichen in der Welt lauert eine geheime Tragödie, Welten müssen in Schwingung sein, damit die kleinste Blume erblühen kann ... Und wie entzückend war er gestern abend gewesen, als er ihm mit erschreckten Augen, die Lippen in scheuem Verlangen geöffnet, im Klub gegenüber gesessen und die roten Kerzenschirme das erwachende Wunder seines Gesichts in einen noch rosenfarbenen Ton getaucht hatten. Mit ihm sprechen, das war wie auf einer auserlesenen Geige spielen. Er gab jedem Druck nach, jeder zitternden Berührung des Bogens... Es lag doch etwas unerhört Knechtendes darin, auf jemand Einfluß auszuüben. Keine andere Tätigkeit kam dem gleich. Seine eigene Seele in eine anmutige Form gießen und sie darin einen Augenblick lang verweilen lassen: seine eigenen Gedankenakkorde im Echo zurückbekommen, bereichert durch die Musik der Leidenschaft und Jugend: sein eigenes Temperament in ein anderes hineinversenken, als wäre es das allerätherischste Fluidum oder ein seltener Wohlgeruch: darin lag eine wahre Lust – vielleicht die allerbefriedigendste Lust, die uns übriggeblieben ist, in einer so beschränkten und ordinären Zeit wie die unsere, die so derbfleischlich in ihren Genüssen und so grobzufassend in ihren Begierden ist... Auch war er ein wundervoller Typus, dieser junge Mensch, den er durch einen so wunderbaren Zufall in Basils Atelier kennengelernt hatte, oder konnte jedenfalls zu einem wunderbaren Typus umgemodelt werden. Anmut war ihm verliehen und die schneeige Reinheit der Jünglingschaft, und eine Schönheit, wie man sie bei alten griechischen Marmorbildern findet. Nichts gab es, was sich nicht aus ihm machen ließe. Man konnte einen Titanen oder ein Spielzeug aus ihm machen. Welch Jammer, daß solche Schönheit dahinwelken muß... Und Basil? Wie interessant war doch er für den Psychologen! Diese neue Art von Kunst, diese neue Weise, das Leben anzuschauen, die ihm auf das seltsamste durch die sichtbare Gegenwart eines Menschen erweckt wurde, der von alledem nichts wußte: der stille Geist, der in einer düsteren Waldlandschaft wohnte und ungesehen ins offene Feld wandelte, enthüllte sich plötzlich wie eine Dryade, und ohne Scheu, weil in der Seele, die sehnsüchtig nach ihm suchte, jene wundersame Vision wach geworden war, der nur die außerordentlichen Dinge offenbar werden: die bloßen Formen und Linien der Dinge wurden gleichsam edler und bekamen eine Art von symbolischer Bedeutung, als wären sie selbst nur Schatten einer anderen und vollendeteren Form, deren Abbilder sie zur Wirklichkeit erhoben: wie merkwürdig das alles war! Er erinnerte sich, daß es in der Geschichte irgend etwas Ähnliches gab. War es nicht Plato, dieser Künstler in der Welt der Gedanken, der es als erster untersucht hatte? War es nicht Buonarotti, der es in den farbigen Marmor seiner Sonettreihe gemeißelt hatte? Aber in unserem Jahrhundert war es etwas Seltenes ... Ja, er wollte versuchen, für Dorian Gray das zu sein, was der Jüngling, ohne es zu wissen, für den Maler war, der das prächtige Bildnis geschaffen hatte. Er wollte versuchen, in ihm zu herrschen – hatte es in Wahrheit schon zum Teil getan. Er wollte diesen wunderbaren Geist zu seinem eigenen machen. Es war etwas unwiderstehlich Magnetisches in diesem Abkömmling von Tod und Liebe.
Plötzlich blieb er stehen und sah an den Häusern hinauf. Er entdeckte, daß er bereits an dem Hause seiner Tante vorbeigegangen sei, und ging stillächelnd zurück. Als er in die etwas düstere Halle eintrat, sagte ihm der Diener, die Herrschaften seien schon beim Frühstück. Er gab einem Lakai Hut und Stock und ging in den Speisesaal.
»Spät wie immer, Harry«, rief seine Tante, ihm zunickend.
Er erfand eine glaubwürdige Entschuldigung, setzte sich auf den leeren Platz neben sie und sah sich um, zu sehen, wer noch da war. Dorian begrüßte ihn schüchtern vom Ende des Tisches her, und seine Wangen wurden vor geheimer Freude rot. Gegenüber saß die Herzogin von Harley, eine Dame von bewunderungswürdig guter Laune und ebensolchem Charakter, die jeder gern hatte und deren Körper in jenen erhabenen architektonischen Maßen aufgebaut war, der von zeitgenössischen Geschichtsschreibern bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind, als Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß Sir Thomas Burdon, ein radikales Parlamentsmitglied, das im öffentlichen Leben seinem Parteichef Gefolge leistete und im privaten den besten Küchenchefs, das nach einer weisen und allgemein verbreiteten Lebensregel mit den Tories dinierte und mit den Liberalen geistig übereinstimmte. Den Platz an ihrer Linken nahm Herr Erskine of Treadley ein, ein alter prächtiger und gebildeter Herr, der sich die schlechte Gewohnheit des Schweigens angeeignet hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärte, schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr alles gesagt hatte, was er überhaupt zu sagen hatte. Seine Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den Frauen, aber so geschmacklos aufgeputzt, daß man bei ihrem Anblick immer an ein schlechtgebundenes Gebetbuch denken mußte. Zu seinem Glück saß an ihrer anderen Seite Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit in den besten Jahren, der so fahl war wie der Bericht eines Ministers auf eine Interpellation im Unterhaus, und mit ihm unterhielt sie sich in jenem intensiv-ernsten Tone, der, wie Lord Henry einmal selbst geäußert hatte, jener unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten Menschen verfallen, und den keiner von ihnen völlig vermeiden kann.
»Wir sprechen über den bedauernswerten Dartmoor, Henry«, rief die Herzogin, ihm vergnügt über den Tisch zunickend. »Glauben Sie, daß er wirklich die berückende junge Dame heiratet?«
»Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich fest vorgenommen, um das Jawort zu bitten.«
»Wie schrecklich«, rief Lady Agatha. »Dann sollte sich wirklich jemand ins