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geht es dir, Mädchen?«, fragte eine durchdringende, geradezu dröhnende Männerstimme an ihrem Ohr.

      Heiko Wieland.

      Nicole sah ihn vor sich. Immer mit hochrotem schwerem Kopf, Schweiß auf der Stirn, Hemd, locker gebundener Krawatte in Knallfarben, Weste. Und unentwegt im Stress.

      »Hallo, Heiko.« Sie hörte selbst, wie wenig erfreut sie klang.

      »Ich muss mich doch mal nach meinem Mädchen erkundigen«, sagte Heiko in gönnerhaftem Ton. »Also, erzähl. Wie ist die Lage?«

      Sie hielt das Handy ein Stück von sich weg und konnte ihn immer noch verstehen.

      »Es geht mir besser«, erwiderte sie.

      »Das freut mich. Habe auch nichts anderes erwartet von meiner Primaballerina. Dann wirst du ja in ein paar Tagen wieder fit sein.«

      In ein paar Tagen? Sie riss die Augen auf.

      »Meine Füße nicht. Ich habe …« Sie erzählte ihm von ihrer Diagnose.

      »Das Brennen hast du doch schon seit Langem«, tat er das Tunnel-Syndrom ab. »Dafür haben wir gute Tabletten.« Er legte eine Kunstpause ein. Dann fuhr er weniger hastig fort: »Denk dran, Mädchen, das Madel, das für dich eingesprungen ist, hat’s auf deine Position abgesehen. Dein Ballettmeister muss sicher sein können, dass du zum verabredeten Zeitpunkt wieder auf der Bühne stehst. Sonst bist du weg vom Fenster.«

      Sie schluckte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

      »Ich bin mir dessen sehr bewusst, Heiko.«

      »Machst du auch den Ausgleichssport, den der Notarzt dir empfohlen hat? Dafür ist deine Auszeit ja auch gedacht.«

      Sie wollte gerade sagen, dass ihre Füße das zurzeit nicht zuließen, entschloss sich dann aber zu einer anderen Antwort.

      »Wie du dich vielleicht erinnern kannst, sprach der Notarzt von einer Auszeit für Körper und Seele. Ein Burnout ist auch ein psychischer Zusammenbruch.« Sie schwieg. Als sie nur Heikos schweren Atem am anderen Ende hörte, fügte sie hinzu: »Wenn du mich hier am Telefon wieder puschst, ist das nicht gerade aufbauend für mich.«

      »Ist ja schon gut«, lenkte Heiko in väterlichem Ton ein. »Aber du bist doch ein belastbares Mädchen. Mein bestes. Soll ich dich mal besuchen?«, fragte er betont munter.

      »Im Moment lieber nicht«, wehrte sie seinen Vorschlag ab. »Ich melde mich wieder.«

      »Und vergiss nicht: Du bist die Beste. Das Talent ist dir von Gott gegeben. Du kannst nichts anderes als tanzen.«

      Heiko verabschiedete sich liebevoll von ihr. Trotzdem hatten sich seine Worte wie eine Drohung in ihrem Kopf festgesetzt. Wieder einmal hatte er ihr unmissverständlich gesagt, wie hart der Konkurrenzkampf war. Und dass sie nichts anderes beherrschte als das tanzen.

      Nach dem Gespräch legte Nicole die schöne Liebesgeschichte zur Seite. Das harte Leben hatte wieder Einzug in die Naturidylle um sie herum gefunden. Aber nicht nur das. Auf ihrem Magen lag ein unangenehmer Druck. Sie verspürte ein saures Aufstoßen.

      Waren daran die Schwarzwälder Spezialitäten schuld, mit denen Daniel sie verwöhnt hatte? Bekam ihr die Ernährungsumstellung nicht?

      Sie konnte nicht länger so tatenlos liegen bleiben. Wieder machte sich eine innere Unruhe in ihr breit. Vergeudete sie nicht ihre kostbare Zeit? Wenigstens könnte sie schwimmen gehen. Oder lieber zuerst zu Dr. Brunner, zu dem sie heute wieder wegen der Injektion kommen sollte?

      Während sie ihre Badetasche packte, fühlte sie sich immer schlechter. Ihr Magen schmerzte. Sie blieb stehen, betrachtete sich im Schlafzimmerspiegel. Unter der leichten Bräune wirkte sie fahl.

      Kurz entschlossen warf sie die Tasche zurück in den Kleiderschrank. Sie brauchte jetzt jemanden, mit dem sie offen reden konnte.

      *

      »Ich wette, du hast immer noch zu niedrigen Blutdruck«, sagte Matthias, nachdem er Nicoles kalte Hand losgelassen hatte.

      »Wahrscheinlich. »Sie lächelte ihn schief an. »Ich kann ja auch keinen Ausdauersport machen wegen meiner blöden Füße.«

      »So blöd sind deine Füße gar nicht. Sie wissen, dass ihnen der Tanz schadet, und sprechen es offen aus.« Er bedachte Nicole mit einem langen Blick, unter dem die junge Frau den Kopf senkte.

      »Ich weiß es ja auch«, sagte sie leise. Dann sah sie ihn wieder an. »Da ist noch etwas, Herr Doktor. Seit ich Schinken, Käse und Brot esse, spricht auch mein Magen mit mir. Magendruck, Übelkeit, Aufstoßen …« Sie seufzte.

      Matthias nickte. »Das wundert mich nicht. Er ist ja jahrelang nur an leichte Kost gewöhnt. Du darfst ihn jetzt nicht überfordern. Gewöhn ihn ganz langsam an die Ernährungsumstellung. Gegen das Aufstoßen verschreibe ich dir ein pflanzliches Mittel, das verschafft dir Erleichterung und nimmt das Druckgefühl.«

      Nicole sah ihn entsetzt an. »Ich habe nicht vor, mich an eine andere Ernährung zu gewöhnen. Ich habe bereits zwei Pfund zugenommen. Das kann ich mir nicht leisten.«

      Eine solche Reaktion hatte er schon befürchtet.

      Er lehnte sich zurück, ließ den Füllfederhalter langsam durch die Finger gleiten.

      »Willst du wirklich weitertanzen, Nicole?«, fragte er dann. Dabei hielt er ihren Blick fest. »Wie soll dein Körper sich noch ausdrücken, um dir zu sagen, dass du ihn seit Jahren überforderst? Was muss noch passieren? Dass man dir kündigt, weil du dem Stress nicht mehr gewachsen bist? Der Sieger sollte freiwillig abtreten. Dann, wenn er auf dem Höhepunkt steht.«

      Er bemerkte, wie sich Nicoles Gesicht verfärbte. Natürlich hatte er sie mit seinen Worten getroffen. Er wollte sie keinesfalls verletzen, sondern ihr vielmehr helfen. Und das ging nur mit schonungsloser Offenheit. Als Mediziner wusste er, dass sie niemals in knapp drei Wochen ihre alte Form zurückbekommen würde. Er wollte sie vor dem steilen Fall von der international bekannten Primaballerina zur gescheiterten Tänzerin bewahren.

      Ihre Mundwinkel zitterten, was sein Herz berührte und ihn schon fast seine Worte bereuen ließ. Doch dann trat eine Verwandlung bei ihr ein. Sie reckte das Kinn. In ihre grauen Augen trat der Ausdruck von Entschlossenheit. Schließlich erschien ein stolzes Lächeln auf ihren weich geschwungenen Lippen, die gerade noch gebebt hatten.

      »Nein, das will ich ganz bestimmt nicht. Ich denke hier viel nach. Und ich habe einiges gelernt, was ich jedoch noch nicht umsetzen kann. Ich bin noch unschlüssig und brauche ein bisschen Zeit.« Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Wie Sie und Ihre Frau ja gesehen haben, habe ich Daniel Geißle kennengelernt. Er weiß, wie es im Hochleistungssport zugeht, und hat mich schon vieles gelehrt. Nur …« Ihr Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an. »Ich kenne mich in dem Leben, das er gewählt hat, noch nicht aus. Ich weiß nicht, ob ich es führen kann.«

      Ihre Offenheit ermutigte ihn zu der folgenden Bemerkung. »Meine Frau und ich hatten den Eindruck, dass euch mehr verbindet als nur eine nette Bekanntschaft.«

      Da begann Nicole zu strahlen. »Wir haben uns ineinander verliebt. Es ist …« Sie senkte den Kopf und als sie ihn wieder ansah, glänzten ihre Augen verdächtig. »Wenn sich so die Liebe anfühlt, dann ist es von meiner Seite Liebe. Und ich glaube, von Daniels auch.«

      Matthias fühlte sich von ihren Worten berührt. Nicole hatte mit so viel Gefühl gesprochen, dass er eine Gänsehaut bekommen hatte. Er musste sich erst kräftig räuspern, um sagen zu können: »Die große Liebe begegnet dir nur einmal im Leben. Manchen Menschen gar nicht. Wenn du sie gefunden hast, halte sie fest. Übrigens«, er zwinkerte ihr zu, »noch gestern habe ich in der Zeitung eine Statistik gelesen, nach der die jungen Leute in der heutigen Zeit im Durchschnitt zwei Berufsausbildungen machen. Wie viele hast du bisher?«

      Nicole zog die Brauen zusammen. »Natürlich nur eine.«

      Er lachte. »Wenn du und Daniel es ernst miteinander meint, könnte die zweite doch die zur Einzelhandelskauffrau in einem Sportgeschäft sein.«

      *