»Ich habe Toni das Geschäft vor einem halben Jahr abgekauft.«
»Tja …« Innerlich völlig durcheinander sah sie sich um. Dann sammelte sie sich. »Ich dachte, du wärst Forstarbeiter.«
»Ich habe den Leuten nur geholfen. Der Wald gehört uns. Das heißt, meiner Mutter. Mein Vater ist seit Jahren tot.«
Sie räusperte sich und sagte mit fester Stimme, so kam es ihr zumindest vor: »Also, ich brauche Wanderschuhe. Mit einem guten Fußbett oder Einlegesohlen.«
»Hast du Fußbeschwerden?«
»Wie heißt das noch?« Mit nachdenklicher Miene legte sie den Zeigefinger auf die Nasenspitze. »Dr. Brunner sagte, ich hätte ein Tarsal-Tunnel-Syndrom.«
»Kenne ich«, erwiderte Daniel wie aus der Pistole geschossen. »Ein Verwandter von mir hatte das. Er musste operiert werden. Was bedeutet, der Tarsal-Tunnel musste operativ erweitert werden, um den Druck vom Nervus tibialis zu nehmen.«
Sprachlos sah sie ihn an.
»Das ist eine bekannte Krankheit unter Berufstänzern«, sagte er ernst.
Sie schluckte.
»Mein Verwandter ist Ire und arbeitet als Stepptänzer.«
»Ach so.« Mehr konnte sie nicht sagen.
Er sah sie eindringlich an. »Bei einem Tarsal-Tunnel-Syndrom solltest du das Wandern vergessen. Eigentlich solltest du gar nicht hier stehen.« Er schenkte ihr ein jungenhaftes Lächeln. »Was ich jedoch sehr bedauern würde.«
Sie lächelte zurück, und zwei, drei Lidschläge lang verfingen sich ihre Blicke. Sie wollten sich gar nicht mehr loslassen, bis Nicole ganz heiß wurde. Schnell drehte sie Daniel den Rücken zu und täuschte Interesse für die Schuhe vor, die auf dem Regal standen.
»Was machst du denn beruflich?«, hörte sie Daniel hinter sich fragen.
»Ballett.«
»Das ist hart.« Er trat an ihre Seite, lehnte sich ans Regal und sah sie mit feinem Lächeln an. »Ich habe es mir fast schon gedacht.«
Sie zog die Stirn in Falten. »Was gedacht?«
»Dass du Hochleistungssport machst.«
Sie stieß ein kurzes Lachen hervor. »Weil ich so ausgemergelt aussehe?« Ihre Stimme klang hart, das hörte sie selbst.
»Ich kenne die Anzeichen. Ich habe jahrelang Zehnkampf gemacht. Dann wollte ich nicht mehr.«
»Du wolltest nicht mehr?«, fragte sie verblüfft.
»Genau.« Sein Lächeln zauberte wieder den Charme auf seine Züge, der sie innerlich berührte. »Jeder hat sein Leben in der Hand. Man muss es nur erkennen. Ich habe Schluss gemacht mit dem Sport, weil ich wieder ich selbst sein, wieder richtig leben wollte.«
Seine Worte schwirrten ihr durch den Kopf. Sie rieb sich die Stirn, als könnte sie so der Klarheit auf die Beine helfen.
»So einfach geht das?«, fragte sie.
Er lachte. Das Lachen erinnerte sie an das seiner Mutter. Auch Daniel war mit sich und der Welt im Reinen.
»So einfach natürlich nicht«, erwiderte er. »Wenn es dich interessiert … Hast du heute Abend schon etwas vor?«
»Nein.«
»Dann möchte ich dich in die Rottwalder Brauerei einladen. Dort verrate ich dir, wie ich es geschafft habe.«
»Einverstanden.« Sie sah zu ihm auf. Obwohl sie nicht klein war, überragte er sie immer noch um eine Kopfhöhe. »Ich komme gern«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, das ihr aus dem Herzen kam.
Noch einmal wollte sie sich den Fehler einer Absage nicht erlauben.
*
Es war einer dieser Sommerabende, die so prall gefüllt sind mit Verheißungen, dass sie zur Liebe einladen. Die Luft war erfüllt vom Duft blühender Wiesen. Der Himmel schimmerte wie Perlmutt, und ein weicher Wind schien eine Ahnung mit sich zu tragen.
Nicole und Daniel trafen sich vor dem Gartenlokal der Rottwalder Brauerei, in dem die für Biergärten so typische heitere Gelassenheit herrschte. Dicht gedrängt saßen die Leute an den Tischen, plauderten, lachten, tranken und ließen sich die deftige Küche schmecken. Kellnerinnen in Dirndln schleppten in großen Krügen das Bier heran; durch die Blätter der Kastanien, die über dem bunten Treiben ihre mächtigen Kronen ausbreiteten, fielen die goldenen Strahlen der untergehenden Sonne.
Die beiden jungen Leute fanden in einer der hintersten Ecken des Gartens noch einen kleinen Tisch. Schön für sich.
Daniel schlug die Karte auf. »Ich lade dich ein«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Er überlegte nicht lange. »Ich esse Schäufele. Das solltest du auch probieren. Es schmeckt hier ganz hervorragend und ist typisch für den Schwarzwald.«
Nicole schluckte.
Sie hatte bereits die riesigen Teller auf den Nebentischen bemerkt. Das ging ja gar nicht. An solche Portionen war ihr Magen nicht gewohnt.
Sie schlug die Karte zu und lächelte Daniel an.
»Ich nehme einen Beilagensalat und Mineralwasser.«
Wieder sah er sie mit diesem eindringlichen Blick an, in dem sie den Ausdruck von Sorge zu erkennen glaubte. Er enthielt sich jedoch jeden Kommentars und gab der drallen Kellnerin die Bestellung auf.
Nach den ersten Minuten, in denen beide etwas verlegen miteinander umgingen, kam dann doch zwischen ihnen schnell eine Unterhaltung in Gang, die jedoch hauptsächlich Daniel bestritt. Er schwärmte Nicole von der Schönheit seiner Heimat vor.
Die junge Frau ertappte sich beim Zuhören dabei, dass sie weniger auf seine Worte hörte, als sie seine Mimik und Gestik beobachtete. Sein kantiges Kinn verriet Durchsetzungsvermögen und Wildheit. Der fein geschwungene Mund dagegen erzählte davon, dass in diesem robust wirkenden Mann ein weicher Kern steckte. Seine Hände, mit denen er seine Worte lebhaft begleitete, waren groß und kräftig. Sie verrieten Stärke, und in seinen sanftbraunen Augen lag so viel Lebenserfahrung und Weisheit.
»Möchtest du nicht auch ein Bier trinken?«, fragte Daniel, als die Kellnerin die Getränke brachte.
Warum eigentlich nicht?, sagte sie sich. Sie fühlte sich innerlich so aufgedreht wie als Teenager beim ersten Rendezvous.
»Ja, gern«, erwiderte sie.
Die Bedienung entfernte sich. Daniel erzählte weiter von den Ausflugszielen in der Gegend, den Lokalen, die nur wenige Touristen fanden, von verschwiegen liegenden Seen und vielem mehr. Nicole fühlte sich wie berauscht, berauscht von seiner tiefen samtnen Stimme, die sie wie ein Streicheln ihrer Seele empfand. Was passierte da mit ihr? Lag die Faszination, die von Daniel ausging, an den wenigen Schlucken des köstlichen Braunbieres, das sie getrunken hatte?
Als das Essen kam, lief ihr beim würzigen Duft des Schäufeles das Wasser im Mund zusammen. Plötzlich machte ihr der riesige Teller gar keine Angst mehr. Sie verspürte Hunger. Sie betrachtete die kleine Portion vor sich. Der Salat war lecker, aber eben leicht, wie Salat schmeckte. Ohne den befriedigenden Nachklang im Gaumen. Immer wieder lugte sie zu Daniels Schäufele hinüber.
»Möchtest du mal probieren?«, fragte er.
Sie schluckte.
Ohne ihre Antwort abzuwarten, orderte er bei der Kellnerin einen zweiten Teller, den diese auch umgehend brachte, und schnitt ein großes Stück Fleisch für sie ab.
Sie probierte.
»Lecker.« Sie lachte ihn an. »Wirklich. Meine Großmutter in Leipzig, also, wir wohnten etwas außerhalb der Stadt auf dem Land, hat auch so gut kochen können. Richtig deftig. Aber …« Sie verstummte.
Daniel legte das Besteck auf den Teller und beugte sich nach