Wernherus stand vor ihm.
Seit jenem Abend, an dem sie Kapitel gehalten, hatte Irimbert den Dekan nicht mehr gesehen. Bei seinem Anblick stieg ihm das Blut in die Stirn.
Freundlich grüßte Wernherus. »Ich seh dich genesen, Immhof, und seh es mit Freude.«
Irimbert schwieg, im Blick die Frage: Was will er?
»Bis heute hab ich die Begegnung mit dir vermieden. Ich wollte dich nicht erregen. Jetzt bist du genesen und gekräftigt. Jetzt wird diese Begegnung härter für mich sein als für dich. Aller Vorwurf, den du mir zu machen Ursach hast – ¦
»Vorwurf? Nein! Ich habe in der Nacht, in die mich Euer Urteil bannte, so viel Licht gefunden, daß ich meinen Richtern im Ernst nicht grollen darf.«
»Ich fühle, du willst mir diese Stunde leichter machen. Und sehe, daß du erkanntest, weshalb ich kam.«
»Euer Scharfsinn täuscht Euch über meine Schwäche im Rätsellösen.«
»Ich kam, um die Versöhnung mit dir zu suchen.«
Die Hand übersehend, die ihm Wernherus bot, trat Irimbert befremdet zurück. Seine Stimme klang hart. »Versöhnung? Ich verstünde diesen Wunsch, wenn mein vernichtetes Leben für Euch noch irgendwelchen Nutzen hätte. Solchen Nutzen seh ich nicht. Deshalb glaub ich Eurem Wunsche so wenig wie den wohlwollenden Masken Eurer Freunde.«
»Laß dir sagen, Immhof –«
»Ihr seid suchen gekommen, was zwecklos ist. Das war doch sonst nicht Eure Art. Und daß Ihr die eigene Natur vertauschen sollt? Ich bin der letzte, der das wünschen möchte. Man muß die Dinge und Menschen nehmen, wie sie sind. Ich verlange vom Winter nicht, daß er Frühling sei, und verlange vom Raubtier nicht, daß es sich verwandle in ein Lamm. Der den Winter und den Wolf erschuf, wird wissen, warum er sie nicht anders machte. So seid auch Ihr, wie Ihr sein müßt. Ich habe keinen Groll gegen Euch.«
Irimbert wollte den Garten verlassen. Wernherus vertrat ihm den Weg. »Immhof! Könntest du mir ins Innere sehen, wie Gott es sieht!«
»Gott?« unterbrach ihn Irimbert, mit einer Furche auf der Stirn. »Ihr wißt aus Erfahrung: Euer Gott und der meine vertragen sich nicht. Oder seid Ihr gekommen, um meinen Dank zu holen? Wie Bruder Medardus die Steuer holt? So nehmt ihn! Obwohl das Leben, das Euer Wille mir ließ, keines Dankes wert ist.«
»Dank? Wofür?«
»Für Eure Laune, die meine Mauer brach.«
Verwundert blickte Wernherus auf. »Deine Mauer fiel, weil die Chorherren erkannten, daß schweres Unrecht an dir geschah. Als sie dich erlösen wollten, hab ich dagegen gesprochen, ich allein. Und weißt du, warum? Neben der Reue, die mich erfüllte, war die Furcht in mir, als ein Schuldiger vor dir stehen zu müssen, vor dem Opfer meines ungerechten Zornes.«
Wie das ehrlich klang! Fast schien es einen Augenblick, als möchte Immhof diesen Worten glauben. Dann lächelte er.
»Dekan! Ich möcht Euch einmal schlafen sehen.«
»Mich schlafen sehen? Weshalb?«
»Um zu erfahren, welches Gesicht Euer wahres ist, jenes, das ich kenne, oder das Gesicht, das Ihr mir heute zeigt. Oder ein drittes? Das könnte mir nur der Schlaf verraten. Der lügt nicht.«
Wernherus blieb geduldig. »Ich merke mit Kummer, daß mein redliches Wort in dieser Stunde dein Ohr nicht findet.«
»Zwischen Eurem Wort und meinem Ohr steht eine Mauer.« »Da hast du recht. Ich weiß auch, das ist die Mauer nicht, die dort unten fiel. Es ist der Unglimpf, den ich, falsch berichtet, wider die Ehre deiner Mutter verübte.« Wernherus sah, wie eine Flamme des Zorns über Immhofs bleiche Wangen schlug. Beschwichtigend hob er die Hände. »Laß mich sagen, wie sehr ich mein Unrecht fühle, wie tief ich es bereue! Aus diesem Vorwurf, der dich maßlos reizen mußte, ist alles hervorgewachsen wie ein Ungewitter aus schwülem Tag. Die Erkenntnis meines Unrechtes begann in mir, als ich erfahren mußte, daß ich eine häßliche Lüge nachredete, die dein Bruder ersonnen, um dich zu verderben, um die reine Seele deiner Mutter tödlich zu treffen in ihrer Liebe zu dir. Und daß es Lüge war, das kann ich heute noch beweisen.«
»Die Ehre meiner Mutter bedarf keines Beweises!« unterbrach ihn Irimbert. »Ich bin ihr Sohn. Das ist mir Beweis genug.« Seine Stimme klang nicht mehr so schroff.
Wernherus hatte ein feines Ohr. »Ich sehe, daß dein gerechter Zorn sich mildern will und muß zufrieden sein mit dem Gewinn dieser Stunde. In Geduld will ich den Tag erwarten, an dem wir Freunde werden.«
»Freunde? Ihr und ich?«
»Ja, lieber Immhof! Ich will das Unrecht sühnen, das ich an dir beging. Jeden Heiltrunk will ich dir bieten, um dein Herz einem neuen Frühling des Lebens zu öffnen.«
Staunend betrachtete Immhof den Dekan. »Herr Wernher! Wenn es möglich wäre, daß sich die Nacht in Tag verwandelt, so könnt ich glauben, dieses Wunder hätte sich in Euch vollzogen.«
»Dein Leiden hat dieses Wunder in mir gewirkt. Wie soll ich es dir beweisen? Kann ich dir einen Wunsch erfüllen?«
»Nein.«
»Immhof! Es war heute nicht zum erstenmal, daß ich dich einsam hier an der Mauer sah. Ich fühlte, wie deine Sehnsucht hinausverlangt in die Freiheit. Die geb ich dir. Steig auf die Berge! Ich gebe dir freien Tag für morgen, bis zum Abend. Wenn du willst, auch für den anderen Tag. Suche den Hilpot auf, geh jagen mit ihm! Jetzt singt der Urhahn im Bergwald droben. Willst du? Ich sehe, wie dir die Freude aus den Augen leuchtet. Heil zum Weidwerk, lieber Immhof! Ich will sorgen, daß sie dir ein Jägerkleid in die Zelle legen und eine Weidmannswehr. Und morgen freue dich deiner Freiheit!« Lächelnd, mit freundlichem Gruße ging Wernherus davon.
Irimbert stand unbeweglich, wie gefesselt von einem Bann, der sein Denken verwirrte. Dann atmete er auf, als wäre in seiner Seele von allen Worten des Dekans nur das letzte zurückgeblieben: »Freiheit!« Die Arme gegen die Berge streckend, stammelte er in die Dämmerung hinaus: »Ich komme!«
Am andern Morgen, noch ehe das Frühlicht graute, war Irimbert wegfertig, im Jägerkleid, mit der Armbrust auf dem Rücken. Als er aus seiner Zelle hinunterstieg, fand er im Klosterhof schon reges Leben. Die Brüder lachten und schwatzten, während sie die Schaubänke für die Chorherren und die frommen Schwestern aufschlugen, die zum Tanz der Gesindleute als Zuschauer geladen waren. Scharf hob sich vom dämmerigen Himmel der hohe, schlanke Mast des Maibaumes ab, der zwischen flatternden Wimpeln geziert war mit allen Insignien des Leidens Christi.
Auch draußen in der Bürgergasse war das Leben schon wach. Hier errichteten die Söhne der Handwerker und Kaufleute ihren Maibaum, den die Abzeichen des Ackerbaues und aller Gattungen des Handwerks schmückten. Auf der Spitze des Baumes, über dem mit Bändern gezierten Maikranz, war eine doppelflügelige Wetterfahne angebracht, ein Spielhahn auf der einen Seite, eine Spielhenne auf der anderen. Wenn der Wind das Fähnl drehte, rannte der Hahn wie in verliebtem Taumel der Henne nach. Das große Spiel des Lebens!
Junge Leute kamen mit Lachen und Singen aus dem Tal herauf. Wenn sie dem Jäger begegneten, der wie ein Träumender seinem Wege folgte, sahen sie verwundert in dieses abgezehrte, vom weißen Haar umhangene Jünglingsgesicht.
Als Irimbert im Tal die Ache überschritten hatte, begann der helle Tag. Am Kreuz der Wolfsreut war er schon vorübergestiegen. Da scholl ihm in der Stille des Morgens das Jauchzen einer heiseren Stimme entgegen. Und es war ein unheimlicher Zug, der sich hervorlöste aus dem Morgenschatten des Waldes.
Wenn zur Winterszeit, während der Schnee alle Wege verschloß, dort oben unter den Dächern der Bergbauern ein leidender Mensch sein Leben endete, banden sie die Leiche auf ein Brett und versenkten sie in den Schnee. Der Frost des Winters schützte sie vor Verwesung. Zerschmolz im Frühling das weiße