»Mich hat der Medikus geschickt, um den Herrn zu holen. Der Kranke ist fieberfrei und wird genesen.«
Wernherus lächelte und trat in seine Stube zurück.
In der Tiefe des Ganges hatte Herr Friedrich schon die Treppe erreicht. Er eilte hinunter. Der Qualm der Glutpfannen quoll ihm entgegen. Um den stechenden Dunst nicht atmen zu müssen, deckte er den Ärmel des Pelzrockes über Mund und Nase. Vor der Tür der Krankenstube hielt er inne. Heiß erfüllt ihn die Freude, den Genesenen wiederzusehen, dem vom Tode Erstandenen den ersten Gruß des Lebens zu bieten. Doch er konnte auch ein Gefühl der Scheu nicht überwinden. Neben der Tür hing noch das schwarze Täfelchen mit der weißen Inschrift: Cave periculum contagionis!
Als Herr Friedrich hinter sich den Schritt des Bruders hörte, trat er in die Stube. Die weiße Zelle war erfüllt vom Wohlgeruch eines Blumenwassers, mit dem der Medicus die Wände und den Estrich besprengt hatte. Die milde Luft des Frühlings hauchte um das offene Fenster, durch das man in der Ferne die grünen Wiesen, den dunklen Wald und die noch weißen Berge unter blauem Himmel sah. Linde Morgensonne lag auf dem Gesims und umflimmerte die Zweige eines Apfelbaumes, der zu blühen begann.
Der Medikus begrüßte den Propst. Auf das Lager des Genesenen deutend, sagte er: »Ecce recreatus, domine, ex longinquitate gravissimi morbi!«
Herr Friedrich stand erschüttert. In seiner Erinnerung lebte noch immer das Bild, wie Immhof im Kapitelsaal allen Zorn seiner Seele dem Gegner ins Gesicht geschleudert hatte, hoch aufgerichtet und stolz, ein Anblick voll jugendlicher Kraft und strenger Schönheit. Und wie mußte er ihn wiedersehen! Das Bild eines Lebens, welches atmet und dennoch zerbrochen ist für immer! Ein abgezehrter und entkräfteter Körper, die Arme dürr und gelb, die Haut der abgemagerten Hände von Narben zerrissen, das lang gewordene Haupthaar weiß wie das Haar eines Greises, und zwischen diesen weißen Strähnen ein welkes und gealtertes Gesicht, in dem nur die Augen noch zu leben schienen, diese großen, stillen und dunklen Augen.
Immhof war so matt, daß er die Hand nicht heben konnte, um sie dem Fürsten zu reichen. Nur mit den Augen konnte er grüßen.
Keines Wortes mächtig, ließ sich Herr Friedrich auf den Rand des Lagers nieder, faßte scheu die Hand des Kranken und streichelte sie mit stummer Zärtlichkeit. Erst nach einer Weile konnte er fragen: »Immhof? Wie geht es dir?«
»Gut!«
Das war wie eine Stimme, die von jenseits des Lebens kam. Dann war es still in der Zelle. Vor dem offenen Fenster klang das Gezwitscher eines Finken und das feine Summen der Bienen.
Da fühlte der Propst einen Druck der Hand, die er in der seinen hielt. »Was willst du?«
»Sagt mir, Herr, was ist dem Greimold geschehen?«
»Sei ohne Sorge! Der hauset in Frieden.« Mit staunendem Lächeln betrachtete der Propst den Kranken, dessen Körper sich streckte wie in einem Gefühl des Wohlbehagens. »Solang ich lebe, soll keiner den Greimold stören in seinem freien Heim! Aber sag mir, Immhof, ist nichts anderes in dir als die Sorge um das Wohl eines Bauern? Hast du an dein neues Leben keine bessere Frage zu stellen?«
»Nein.«
»Keine?«
»Dank ich meine Erlösung Eurer Güte?«
Seufzend schüttelte Herr Friedrich den Kopf. »So lieb du mir warst, ich hätte den Mut dieser Güte nie gefunden. Es ist Wernherus, der die Mauer fallen machte.«
»Wernherus?« Ein müdes Lächeln irrte über Immhofs welken Mund. »Ein neues Rätsel zu den vielen meines Lebens! Soll es lösen, wer mag! In meiner stillen Nacht dort unten hab ich es verlernt, den Rätseln der Erde und des Himmels nachzuspüren. Ich erkannte, daß es zwecklos ist.« Tief atmend schloß er die durchsichtigen Lider, und seine Stimme wurde zu mattem Flüstern. »Die Augen schließen und träumen! Das ist von allem das Beste. Nur mit dem Herzen sehen, nur in die eigene Seele blicken. Für sich selbst der Schöpfer werden, der eine Welt von makelloser Schönheit aus dem Nichts erbaut. Diese neue Welt bevölkern mit Blumen, mit guten Menschen und mit einem liebenden Gott. Und alles Gewonnene still und tief in sich verschließen. Wer das vermag, ist unter tausend Atmenden der einzige, der lebt.«
Schweigend saß der Propst. Das Bild der Gegenwart floß ihm zusammen mit einem Bilde der Erinnerung. »Das ist von allem das Beste!« Hatte nicht Dietmar Scharsach mit dem letzten Hauch seines Atems auf diesem gleichen Lager die gleichen Worte gesprochen? Wenn auch in anderem Sinn! Und wenn von diesen beiden jeder in einem anderen Ding das »Beste« des Lebens erkannte? Welcher fand das rechte? Jener sterbende Greis, der von der Schwelle des Todes noch in Sehnsucht die Arme zurückstreckte nach einem warmen Erdenglück, das ihm ein grausames Schicksal zerbrochen hatte? Oder dieser Jüngling, dem in wunschloser Abkehr von aller Wirklichkeit nur wesenlose Bilder die müde Seele füllten, jetzt, da er aus dem Grab erstanden, da sein Leib aufs neue zu atmen begann und das warme Leben nach ihm die Arme streckte? Aber war es denn noch ein Leben, dem dieser »Erlöste« entgegenging? So verwandelt! So zerstört! »Immhof!« Mit einem Blick voll Kummer drückte Herr Friedrich die magere Hand des Kranken. »Ich kam mit einer Hoffnung und sehe jetzt, sie haben nur deinen Leib aus der Mauer geholt, dein Leben ist dort unten geblieben, du bist ein toter Mann!«
Da öffnete Irimbert die Augen. Sie waren klar und ruhig. »Nein, Herr, ich lebe! In meinem Herzen ist Traum und Freude. Jetzt erst leb ich! Als sie mir das Urteil sprachen, glaubten sie mich in die Nacht zu stoßen. Diese Nacht ist mein Tag geworden. In tausend sinnenden Stunden hab ich dort unten von mir abgestoßen, was tot und leer an meinem Leben und Denken war. Stück um Stück ist um mich her eine Welt zerfallen mit ihrem Unwert und ihren Götzen. Dann ist ein Neues in mir gewachsen. Licht und Frühling! Und eine Blume sah ich. Und gläubig lernte ich zu einem Schöpfer beten, aus dessen Händen so reine Schönheit kam.«
Langsam beugte sich Herr Friedrich zu dem Kranken nieder und betrachtete scheu das abgezehrte Gesicht, das sich matt zu röten begann. Was Immhof sprach, erinnerte ihn an die seltsamen Worte, die er in jener Nacht durch die Mauer vernommen hatte, und an sein eigenes Wort, das er in Schreck gestammelt: »Das ist Irrsinn!« Wieder erwachte die gleiche Sorge in ihm. »Frühling? Nur Frühling in dir? Immhof? Fühlst du nicht auch den Frühling, der da draußen kam? Fühlst du die Sonne nicht?«
»Ja, Herr! Die fühl ich. Doch in mir ist Sonne, die schöner leuchtet.«
»Und das Lied des Finken? Hörst du das?«
»Ja, Herr! Das hör ich. Doch in meiner Seele hör ich ein Lied, das noch holder klingt.«
Herr Friedrich stellte keine Frage mehr. Je länger er in diese klaren Augen sah, desto ruhiger wurde seine Sorge. Was aus Immhof redete, konnte nichts anderes sein als ein Nachhall des phantastischen Trostes, mit dem der Eingekerkerte die Schauer seiner Finsternis gelindert hatte.
»Immer und immer hab ich dieses Lied gehört, das meine Blume sang. Nur selten schwieg es. Dann klangen die anderen Stimmen. Das war böse Zeit.«
»Andere Stimmen?«
»Wenn Eure Chorherren in der Kellerstube ihre trunkenen Gesänge brüllten, klang es durch alle Mauern bis zu mir.« Die weißen Brauen des Kranken furchten sich. »Dann sah ich die Nacht, die mich umgab. Frierend kroch ich von einem Winkel in den anderen, um dem Abscheu meines Körpers und den Ratten zu entfliehen, die immer hungrig waren und scharfe Zähne hatten.« Von einem Schauer gerüttelt, schloß Irimbert die Augen. »Fragt den Wernherus, Herr, ob sein Gott auch die Ratten erschuf!«
Der Medikus legte dem Propst die Hand auf die Schulter. »Ihr sollt den Kranken so viel nicht sprechen lassen.«
Herr Friedrich nickte. »Erlös ihn bald von diesem Bett! Wie lange muß er noch liegen?«
»Eine Woche.«
»Führst du ihn zum erstenmal