Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835550
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uns verhöhnen sie als Händler und sich selbst überheben sie als Krieger. Wenn wir sie nur ein einziges Mal schlagen, vergiften wir ihren Hochmut, so daß sie sich davon nie wieder erholen werden.«

      Was Gabriel und Aram von der Sache auch in Wirklichkeit halten mochten, sie sprachen immer und immer wieder von dem glorreichen Ausgang des Widerstandes und hämmerten so in die bereitwilligen Seelen der Jugend fanatischen Glauben und, was nicht minder wichtig war, fanatische Zucht.

      So wenig Gabriel Bagradian etwas von seiner stählernen Körpernatur geahnt hatte, so wenig war er sich seiner Organisationsgabe bewußt gewesen. In der Welt seines bisherigen Lebens bedeutete »praktische Veranlagung« soviel wie plattes und habsüchtiges Denken. Mit erfolgreichem Ehrgeiz hatte er sich deshalb immer auf die Seite der Unpraktischen geschlagen. Nun aber gelang es ihm, dank seinen Vorarbeiten, schon in den ersten Stunden eine sinnreiche Einteilung des Heeres zu schaffen, feste Kader gleichsam, in die sich die Nachrückenden aus dem Tale dann leicht würden einfügen lassen. Er schuf drei Hauptgruppen: ein erstes Treffen, eine große Reserve und eine Jugendkohorte der Halbwüchsigen zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren, die nur im Notfall, bei größeren Verlusten und an zerriebenen Fronten eingesetzt werden sollte, sonst aber den Späher-, Melde- und Läuferdienst zu besorgen hatte. Auf den vollen Stand gebracht, war die erste Linie mit achthundertsechzig Mann berechnet. Sie umfaßte abzüglich der Schwachen, Ganzuntauglichen und einer Anzahl der wichtigsten Professionisten alle Männer im Alter von sechzehn bis zu sechzig Jahren. In die Reserve sollte nicht nur der Rest der alten, noch arbeitsfähigen Männer eingeteilt werden, sondern auch eine beträchtliche Menge von Frauen und Mädchen, so daß dieses zweite Treffen zwischen tausend und elfhundert Menschen schwankte. Das dritte Glied, die Aufklärungstruppe der Jugendkohorte, die Kavallerie des Damlajiks gewissermaßen, bestand aus mehr als dreihundert Knaben. Gabriel schickte am Morgen des zweiten Tages seinen Adjutanten Awakian hinunter in die Villa nach Stephan. Er war nicht sicher, daß Juliette ihn ohne weiteres ausliefern werde. Der Student aber kam mit dem glückstrahlenden Jungen pünktlich zurück, den sein Vater sogleich in die Jugendkohorte einreihte. Von den achthundertundsechzig Mann der Kerntruppe konnten freilich nur dreihundert mit den vorhandenen Infanteriegewehren bewaffnet werden. Der größere Teil mußte sich leider mit Jagdflinten und den romantischen Feuerwaffen begnügen, die fast jedes Haus der Dörfer besaß. Auch Gabriel ließ alle brauchbaren Büchsen aus dem Waffenkasten seines Bruders verteilen. Es war ein besonderes Glück, daß die meisten Männer, nicht nur jene, die beim türkischen Militär gedient hatten, mit Gewehren umzugehen wußten. Dennoch aber mußte alles in allem die Bewaffnung der Kerntruppe kläglich genannt werden. Vier Züge regulärer Infanterie auch ohne Maschinengewehr waren ihr weit überlegen. Diese wichtigste Kampfschar war natürlich nicht als gestaltlose Masse gedacht; sondern zerfiel nach Gabriels Kriegsplan in feste Einheiten von je zehn Mann, in winzige Bataillone gewissermaßen, die selbständig bewegt und verwendet werden konnten. In der Einteilung sah er ferner darauf, daß jegliche von diesen Zehnerschaften aus Dorf-, ja womöglich aus Sippengenossen bestand, damit der stärkste Zusammenhalt in der Kameradschaft erreicht werde. Schwieriger schon stand es um die Kommandantenfrage, denn einem unter den zehn Männern jeder Einheit mußte die Führung anvertraut werden, so wie auch die größeren Verbände der Befehlshaber bedurften. Diese wählte Bagradian aus den gedienten Männern der verschiedensten Altersstufen aus. Der unschätzbare Tschausch Nurhan übernahm aber die Rolle eines Truppengenerals, eines Zeugmeisters, eines Festungsingenieurs und eines Exerzierlöwen in einer Person. Die ausgezogenen Spitzen seines grauen Draht-Schnurrbartes zitterten, der große braune Adamsapfel des dürren Halses hüpfte auf und ab. Nurhan schien den Türken für die Austreibung heißen Dank zu wissen, so leidenschaftlich war der Eifer, mit dem er sich auf die langentbehrte militärische Tätigkeit warf. Stundenlang übte er mit der arbeitsfreien Mannschaft, ohne sich und ihr die geringste Ruhe zu gönnen. Er hatte sich's in den Kopf gesetzt, die Gegenstände des türkischen Exerzierreglements, die für eine jahrelange Ausbildungsdauer berechnet sind, der armenischen Intelligenz und Geschicklichkeit in wenigen Tagen abzutrotzen. Er beschränkte sich hauptsächlich auf Gefechtsübungen, auf Schwarmlinienbilden, »Sprung auf« und »Nieder«, auf Deckungsuchen, schnelles Eingraben, Geländeausnützung und Sturm. Nur mit großem Unwillen nahm er es hin, daß Bagradian das Scharfschießen nicht bloß wegen Munitionsersparnis begreiflicherweise verboten hatte. So alt Nurhan auch war, er galoppierte von einer übenden Abteilung zur anderen, er belehrte die einzelnen Zehnerschaftsführer, er brüllte und schimpfte im unflätigsten Kasernenhoftürkisch. Mit Säbel, Armeepistole, Gewehr, Patronentasche bis an die Zähne bewaffnet, hatte er auch noch das dem Ärar entführte Infanteriekornett umgehängt, mit dessen heiser stotternden Signalen er jeden Augenblick seine Truppe anfeuerte. Bagradian lief das ganze Stück vom Nordsattel erregt zum Exerzierplatz, um das aberwitzige Getute streng zu verbieten. Es war ja nicht unbedingt notwendig, die Saptiehs und mohammedanischen Dörfer der Umgebung von den Manövern auf dem Damlajik schallend in Kenntnis zu setzen.

      Bereits am ersten Morgen waren die Deserteure des Musa Dagh zu den Kämpfern gestoßen. Sie vermehrten sich im Laufe der beiden Tage zu der stattlichen Menge von sechzig Mann, denn Nurhans Trompete schien die Gesellen von den Nachbarbergen, vom Ahmer Dagh und dem kahlen Dschebel el Akra, herbeigelockt zu haben. Für Gabriel Bagradian bedeuteten sie, obgleich alle gut bewaffnet waren, einen willkommenen-unwillkommenen Zuwachs. Zweifellos befanden sich unter diesem herzbeklemmenden Element nicht nur gewöhnliche Fahnenflüchtige, mißhandelte, freiheitssüchtige oder feige Soldaten, sondern auch düstere Burschen, die mehr als den militärischen den bürgerlichen Richter zu fürchten hatten. Hochstapler mit einem Wort, die sich die Deserteurwürde fälschlich anmaßten, da sie Wegelagerer von Beruf waren und nicht den Kasernen von Antakje, Alexandrette und Aleppo, sondern dem Bagno von Payas entsprungen zu sein schienen. Das wahre Gewerbe der sechzig Neuankömmlinge zu unterscheiden, fiel äußerst schwer, denn alle sahen sie gleich scheu, tückisch und verkommen aus, was ja bei solchen Ausbrechern nur selbstverständlich war, die bei Tag und Nacht den Fahndungen der Gendarmerie Trotz bieten mußten und sich niemals vor zwei oder drei Uhr morgens in die Dörfer wagten, um von den zusammenschreckenden Volksgenossen ein Stück Brot zu erbetteln. Die verhungerten Knochen der Deserteure – von Körpern konnte man kaum mehr reden – staken in den Lumpen der wüstenfarbenen Felduniform. Soweit man durch das verlauste Haar- und Bartgestrüpp noch so etwas wie Gesichter wahrnahm, waren sie gebräunt von Sonne und Schmutz. Aus ihren Armenieraugen blickte nicht nur das große allgemeine Leiden, sondern noch ein besonderes dazu, das boshafte Leiden verkrochener Nachtseelen, die langsam wieder im Tiersein untergehen. Das Gesindel sah aus wie von der Menschheit gekündigt. Nur auf den Deserteur Sarkis Kilikian, den man den Russen nannte, stimmte dieses Wort äußerlich wenigstens nicht, obgleich gerade er noch unerbittlicher aus dem menschlichen Sicherheitsverband entlassen war als alle anderen. Gabriel erkannte in ihm auf den ersten Blick das nächtliche Gespenst vom Dreizeltplatz. Die Frage, wie diese sechzig unholden Gesellen auf die Zehnerschaften verteilt werden sollten, ohne die werdende Disziplin zu gefährden, konnte nicht sofort gelöst werden. Vorläufig wurden sie trotz ihrer erstaunten Grimassen in die eiserne Zucht Tschausch Nurhans geschickt, wo sie für Speis und Trank dasselbe schweißtreibende Kriegsgewerbe üben mußten, dem sie entlaufen waren.

      Doch nicht Nurhans Gefechtsexerzieren war die wesentlichste Aufgabe dieser arbeitsbegeisterten Tage, sondern Vorbereitung und Bau der Kampfstellungen. Die blauen und braunen Linien, die Gabriel in Awakians Karten eingezeichnet hatte, mußten nun in Wirklichkeit umgesetzt werden. Da es auf dem Damlajik zurzeit mehr Hände als Grabscheite, Krampen und Spaten gab, wurde die Arbeit in zwei Schichten geleistet, die einander in ihrer Beschäftigung ablösten. Als eigentliches Arbeitsheer war von Bagradian ja die Reserve gedacht, das heißt jene elfhundert Männer und Frauen, die nur in der Stunde des Kampfes ihre Posten zu beziehen hatten, sonst aber im Lager das notwendige Handwerk und den allgemeinen Dienst verrichten sollten. Das Volk aber, das zur Reserve gehörte, befand sich noch in den Dörfern unten.

      Nach Gabriel Bagradians Berechnung gab es dreizehn Einfallspunkte, an denen der Damlajik bedroht war. Die offenste Zugangsstelle lag im Norden, wo jener schmale Einschnitt, den Gabriel als Nordsattel bezeichnete, den Berg von den anderen Teilen des Musa Dagh trennt, die in die Richtung von Beilan verlaufen. Der zweite, obwohl schon weniger gefährdete Ort, war der breite Ausstieg der Steineichenschlucht oberhalb Yoghonoluks. Diesem glichen dann die übrigen Gefahrzonen des westlichen Bergrandes im kleineren Maße, und zwar überall