Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835550
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zum Herbst, mein Lieber, bleibe ich dir nicht hier. Langsam bekomme ich Sorge um Frankreich. In den letzten Tagen habe ich oft an Mama denken müssen.«

      Der lange, rätselhafte Blick Gabriels aber gab ihr zu verstehen, daß sie etwas ganz Vermessen-Unsinniges gesagt hatte.

      Gabriel Bagradian setzte seine Erkundungszüge durch die Dörfer fort, er dehnte sogar sein Studiengebiet aus: im Süden kam er jetzt oft über Suedja hinaus und im Norden nach einem vielstündigen Ritt einmal bis Beilan, dem verwaisten Villenort der reichen Armenier von Alexandrette. Ein einziges Mal wagte er sich wieder nach Antiochia. Die Orontesbrücke bewachten im Gegensatz zur frühern Zeit ein paar Saptiehs. Sie fragten Gabriel nicht nach seinen Papieren und ließen ihn gleichgültig vorbei. Einen Augenblick lang wähnte er, sämtliche Postenketten des Reiches würden ihn und den Wagen mit Juliette und Stephan ebenso anstandslos passieren lassen wie diese hier. Vielleicht war die Rettung leichter zu bewerkstelligen als er ahnte. Sobald er aber in die neue Nachrichtenhalle des Hükümets getreten war, belehrte ihn ein großer Wandanschlag sogleich eines Schlechteren. An keinen Armenier, so wurde dort verlautbart, durften Fahrkarten für Eisenbahn und Reisepost ausgegeben werden. Und was noch bedenklicher war, es hieß wörtlich:

      »Wo immer ein Angehöriger der armenischen Millet außerhalb seines Wohnsitzes ohne Paß und Reiseschein angetroffen wird, hat er festgenommen und dem nächstgelegenen Deportationslager eingereiht zu werden.« Diese scharfe Verordnung,« die einige Artikel umfaßte, war von Mustafa Abdul Halil Bey unterfertigt, dem gefügigen Nachfolger des tapferen Djelal. Trotz der Drohung schlenderte Bagradian durch den Bazar. Die enge, sonst so vollgestopfte Straße war fast menschenleer und zeigte eine verschrockene Trauermiene. Obgleich die Verbannung sie noch nicht getroffen hatte, hielten die armenischen Händler ihre Läden gesperrt und schienen vom Erdboden verschluckt zu sein. Doch auch die mohammedanische Bevölkerung hatte keineswegs zu lachen. Der erste Schatten nämlich, den die Sünde wider die Armenier auf das Reich warf, war ein jäher Wertsturz des türkischen Papiergeldes. Seit einiger Zeit wollten sich die Kaufleute nicht mehr mit Gold und Silber bezahlt machen, worauf diese schamhaften Metalle sogleich keusch von allen Märkten verschwanden. Die Wirtschaftsweisen in den Ministerien von Stambul gaben verwickelte Erklärungen für das Geheimnis der unbegründet-plötzlichen Entwertung. Daß aber der Kreislauf des Geldes von den Marktverhältnissen der moralischen Welt abhängen könnte, darauf ist bis zum heutigen Tage kein Wirtschaftsweiser gekommen. Die Türken in Antiochia drückten sich mit schlappen und beklommenen Schritten durch den Bazar, der mit seinen Pfützen, Gossen und Abfallhaufen wie eine nächtliche Vorstadtgasse aussah.

      Gabriel fand das altertümliche Haustor des Agha Rifaat Bereket verschlossen. Er hämmerte mehrmals mit dem Klopfer gegen das kupferbeschlagene Holz, doch kein Mensch meldete sich. Der Agha war also von seiner anatolischen Reise noch nicht heimgekehrt. Obgleich Gabriel wußte, daß diese Reise der Hilfe für das armenische Volk galt, so erfüllte ihn das Fernsein des Vaterfreundes jetzt mit Kümmernis.

      Nach der Rückkunft beschloß Bagradian, auf all seinen ferneren Fahrten den äußersten Umkreis des Musa Dagh nicht mehr zu verlassen. Der Grund dafür lag in der zauberhaft beschwichtigenden Wirkung, die der Heimatberg je länger je stärker auf ihn ausübte. Noch immer, wenn er morgens das Fenster öffnete und den Berg grüßte, erfüllte ihn jenes feierliche Erstaunen, das er nicht verstand. Die lastende Masse des Musa Dagh, zu jeder Stunde anders gestaltet, jetzt dicht zusammengeballt, jetzt flockig im Sonnendunst sich lösend, dieses in allen Verwandlungen ewige Bergwesen schien Gabriels Kräfte zu beleben und ihm den Mut für das qualvolle Hin und Her jener Gedanken zu verleihen, die ihm seit der Ankunft des Pastors Aram Tomasian den Schlaf raubten. Verließ er aber den Schatten des Musa Dagh, so sank der Mut für diese Gedanken sogleich. Indessen aber trugen seine eifrigen Streifzüge in den Dörfern gute Früchte. Er gewann, was er anstrebte, eine ziemlich lückenlose Übersicht nicht nur des äußeren Lebens und Treibens dieser Bauern, Obstzüchter, Seidenspinner, Schalweber, Imker und Holzschnitzer, sondern er durfte auch manchen Blick in ihre Familienbeziehungen und verschlosseneren Seelenbezirke tun. Das war freilich nicht immer ganz leicht. Viele Landsleute sahen in ihm zuerst nur den vornehmen Fremdling, mochte er auch durch Sippe und Besitz mit ihnen verbunden sein. Awetis Bagradian der Jüngere war ihnen natürlich näher gestanden, obgleich der wortkarge Sonderling sich um keinen Menschen gekümmert hatte, auch nicht um Krikor, Ter Haigasun, die Lehrer, und kaum jemals in die Dörfer herabgekommen war. Gleichviel, er lag auf dem Friedhof von Yoghonoluk mitten unter ihren Toten. Mit der Zeit aber wuchs das Vertrauen zu Gabriel und sogar eine heimliche Hoffnung, die sie in ihn setzten. Der Effendi war gewiß ein mächtiger Mann, den das Ausland kannte und den die Türken seines Einflusses halber fürchteten. Solange er in Yoghonoluk weilte, würde vielleicht das Ärgste über die Dörfer nicht hereinbrechen. Niemand gab sich Rechenschaft über den wirklichen Wert solcher Hoffnungen. Es war aber noch eine andere Witterung dabei. Wenn Gabriel über die Zukunft auch ebensowenig wie die andern sprach, so konnten manche in seinen Augen, in seiner Unruhe, in seinen Fragen, in den Notizen, die er sich machte, irgendein zielbewußtes Denken, eine besondere Tätigkeit spüren, die ihn von jedermann unterschied. Alle Augen hingen an ihm, wenn er auftauchte. Er wurde in viele Häuser gebeten. Obgleich die Stuben nach der Sitte des Landes ziemlich leer waren, überraschte ihn doch ihre saubere Wohnlichkeit. Der lehmgestampfte Estrich war mit reinen Matten belegt. Zum Niedersitzen dienten mit guten Teppichen bedeckte Diwans. Nur bei den ärmsten Bauern grenzte der Stall unmittelbar an die Stube. Die Wände waren durchaus nicht überall nackt. Neben Heiligenbildern hatten die Bewohner irgendwelche verschollene Illustrationen und Kalenderbildchen aufgehängt. Manche Hausfrau schmückte ihren Raum – eine große Seltenheit im Orient – mit frischen Blumen, die meist in flachen Gefäßen lagen. Hatte sich der Gast niedergelassen, so wurde ein dicker Holzblock vor ihn hingestellt, auf dem die umfängliche Zinnschüssel ruhte, die eine Auswahl von Backwerk, Honigschnitten und süßen Käsewürfeln trug. Gabriel kannte noch von jenen Kindheitsjahren in Yoghonoluk her den Geschmack dieser überaus süßen Näschereien. Damals waren es verbotene Genüsse gewesen, denn die Eltern durften natürlich nichts davon wissen, daß die Dienerschaft des Hauses mit dem kleinen Gabriel in den Dorfhäusern einkehrte. Jetzt aber kam angesichts der reichlichen Bewirtung Gabriels Magen in Verlegenheit, zumal ihm neben dem Backwerk noch Melonenscheiben und gezuckerte Früchte angeboten wurden. Die Gastlichkeit abwehren wäre eine tödliche Kränkung gewesen. Er half sich also damit, daß er die Kinder, die man ihm überall vorführte, mit den Süßigkeiten fütterte, während er hie und da selbst einen Bissen in den Mund steckte. Rührend, wie alle diese Kinder, besonders die kleinen, geliebt und wohlgehalten waren. Die Mütter verwendeten auf die Sauberkeit der Hemdchen, Kittel und Schürzen ihre stolzeste Sorgfalt. In späteren Jahren konnten freilich auch sie es nicht hindern, daß die Buben auf ihren Kriegs- und Beutezügen durch die Schluchten des Damlajik verwilderten. Bei seinen häufigen Dorfbesuchen gewann Gabriel Bagradian manchen Freund. Der getreueste unter allen war ein gesetzter Mann namens Tschausch Nurhan, was so viel heißen will wie Sergeant Nurhan. Dieser Tschausch Nurhan besaß am südlichen Ortsausgang von Yoghonoluk den ansehnlichsten Handwerksbetrieb nach dem Bauunternehmer Tomasian, und zwar eine Schlosserei und Schmiede, eine Werkstätte zur Sattelerzeugung, eine Wagnerei, in der die landesüblichen Kangni gebaut wurden, und schließlich ein innerstes Heiligtum, wo er ohne Zeugen waltete. Eingeweihte wußten, daß er sich in diesem Raum mit der Reparatur von Jagdwaffen und der Herstellung der dazugehörigen Patronen befaßte; doch blieb diese Tätigkeit unbequemer Anzeigen wegen den Augen des Saptieh Ali Nassif am besten entzogen. Tschausch Nurhan war ein alter »Längerdienender«. Eine militärische Dienstzeit von sieben Jahren lag hinter ihm, die er im Krieg und bei einem anatolischen Infanterieregiment in der großen Kaserne von Brussa verbracht hatte. Von eingefleischtem Soldatenwesen sprach seine ganze Erscheinung, der angegraute Schnurrbart mit den weit ausgezogenen Spitzen, der unablässige Gebrauch militärischer Redensarten und Kraftworte und nicht zuletzt sein ehrerbietig strammes Verhalten zu Bagradian, den er immer nur als Offizier und Vorgesetzten begrüßte. Vielleicht spürte er sogar irgendwelche Eigenschaften in Gabriel, von denen dieser selbst nichts wußte. Tschausch Nurhan, der schon für Awetis den Jüngeren gearbeitet hatte, übernahm es, die reichen Waffenbestände des Hauses Bagradian daraufhin durchzusehen, ob alles in Ordnung sei. Er holte die Gewehre ab, um sie in seiner heimlichen Werkstätte säuberlich zu zerlegen, einzufetten und wieder zusammenzusetzen. Bei dieser Arbeit sah ihm Gabriel öfter zu. Auch Stephan