»Sie ist ja kinderlos.«
Der Muchtar aber lauschte mit seinem Schwerhörigenkopf und dem leicht schielenden Blick einem Vortrag des Apothekers, der die Vorzüge der chinesischen Seidenverarbeitung mit den genauesten Einzelheiten dem heimischen Gewerbe entgegenstellte. Kebussjan schlug sich aufs Knie:
»Unser Krikor, was!? Da geht man jahrzehntelang in seine Apotheke und kauft Petroleum und Magenpulver und weiß nicht, was das für ein Mann ist!«
Am längsten brauchte der Hausherr, um aufzutauen. Dies geschah aber von einem Augenblick zum andern. Unzufrieden musterte er den großen Tisch, auf dem Backwerkschüsseln, Tee-, Kaffeeschalen und zwei Karaffen mit Raki standen. Gabriel sprang auf:
»Meine Freunde! Wir müssen doch etwas Besseres zum Trinken bekommen.« Er ging mit Kristaphor und Missak in den Keller, um Wein zu holen. Awetis der Jüngere hatte für reichliche Einlagerung und Pflege der besten Jahrgänge gesorgt. Dem Verwalter war die Obhut übertragen. Die starken Weine des Musa Dagh freilich hielten sich nicht lange. Vielleicht kam das daher, weil sie anstatt in Fässern, der altertümlichen Sitte gemäß, in großen versiegelten Tonkrügen aufbewahrt wurden. Es war ein dunkelgoldner Tran, sehr schwer, den Weinen ähnlich, die in Xara am Libanon gedeihen. Als man die Gläser vollgeschenkt hatte, erhob sich Bagradian, um einen Trinkspruch voranzuschicken. Dieser geriet ebenso unbestimmt und düster wie alles, was heute von ihm gekommen war: Es sei schön, daß sie alle hier frohen Herzens beisammen säßen. Wer aber wisse, ob man auch das nächste oder übernächste Mal denselben leichten Sinn werde haben dürfen? Niemand jedoch möge sich in dieser Stunde durch solche Gedanken betrüben lassen, denn sie brächten nichts Gutes.
Diesen Trinkspruch, der eher eine umwölkte Mahnung war, brachte Gabriel in armenischer Sprache aus. Juliette grüßte mit ihrem Glas zu ihm hinüber:
»Ich habe dich genau verstanden, jedes Wort ... Aber warum so schwermütig, mein Freund?«
»Ich bin nur ein äußerst schlechter Redner«, entschuldigte sich Gabriel. »Vor ein paar Jahren hat man mir nach Paris geschrieben und eine Stellung in der Daschnakzapanpartei angetragen. Ich habe sie abgelehnt, nicht nur weil ich mit Politik nichts zu tun haben will, sondern weil ich vor einer großen Menschenversammlung kein Wort herausbrächte. Ein Volksführer ist an mir nicht verlorengegangen.«
»Rafael Patkanian« – der Apotheker wandte sich erklärend an Juliette –, »Patkanian war einer unserer größten Volksführer, ein wahrer Volkserwecker und doch der schlechteste Redner, der sich denken läßt. Er hat ärger gestottert als der junge Demosthenes. Dies aber war gerade die besondere Wirkung seiner Reden. Ich habe selbst in alter Zeit noch die Ehre gehabt, ihn zu kennen und zu hören. In Eriwan.«
»Sie meinen«, lachte Gabriel, »was nicht ist, kann noch werden.«
Der schwere Wein erfüllte seine Pflicht. Die Stummen wurden beredt. Lehrer Hrand Oskanian allein wahrte das bittere Schweigen, das er seiner Bedeutung schuldig war. Der Mann Gottes, Nokhudian, der nicht viel vertrug, verteidigte sein Glas gegen die Angriffsversuche der Gattin, die es ihm entreißen wollte. Dabei wiederholte er mehrmals:
»Es ist doch ein Fest, Frau! Nicht wahr?«
Als Gabriel eines der Fenster öffnete, um einen Blick in die Nacht zu werfen, fühlte er Juliette hinter sich.
»Nun, ist es nicht recht hübsch?« flüsterte sie.
Er legte die Hand um ihre Hüfte:
»Wem habe ich es zu verdanken, wenn nicht dir?«
Doch zu diesen liebenden Worten paßte der verzerrte Ton nicht. Im Gefolge des Weines wurde der Wunsch nach Musik rege. Einige wiesen auf einen jungen Menschen hin, der zu den Lehrern gehörte. Er war einer aus Krikors Jüngerschaft namens Asajan. Der zwirnsdünne Mann sollte Inhaber einer guten Stimme und eines guten Gedächtnisses für die heimische Liederwelt sein. Nach Sängerart sträubte sich Asajan. Ohne Begleitung könne man nicht singen und seine Wohnung liege zu weit, den Tar zu holen. Juliette dachte schon daran, ihr Grammophon herunterbringen zu lassen. Gewiß kannten die wenigsten der Bewohner von Yoghonoluk dieses Wunder der Technik. Apotheker Krikor jedoch entschied die Frage, indem er seinem Hausgast einen bedeutungsvollen Blick sandte.
»Wir haben ja einen Künstler unter uns.«
Gonzague Maris setzte sich ohne viel Widerstreben an das Piano.
»Eines der zwölf Klaviere in Syrien«, verkündete Gabriel, »es wurde vor einem Vierteljahrhundert für meine Mutter aus Wien bezogen. Kristaphor aber hat mir erzählt, daß mein Bruder Awetis aus Aleppo einen Fachmann kommen ließ, um es instand zu setzen. In den letzten Wochen seines Lebens hat er oft gespielt. Und ich wußte gar nicht, daß er musikalisch war ...«
Gonzague griff ein paar Akkorde. Aber wie es schon geht, der Künstler fand nicht den rechten Ton für die späte Stunde, für die ungewohnten Ohren und das Erfrischungsbedürfnis seiner Zuhörer. Nachlässig, den Kopf über die Tasten gebeugt, die Zigarette im Mund, saß er da – seine Finger aber gerieten immer tiefer in makabre Weisen. »Verstimmt, schrecklich verstimmt«, murmelte er und konnte sich vielleicht deshalb nicht von dem klagenden Tongeschlecht losreißen. Ein Schleier von Langweile und Abspannung legte sich auf sein vorhin noch so hübsches Gesicht. Bagradian betrachtete von der Seite dieses Gesicht, das ihm jetzt nicht mehr knabenhaft schüchtern, sondern zweideutig und abgelebt erschien. Er sah sich nach Juliette um, die ihren Stuhl in die Nähe des Klaviers geschoben hatte. Ihr Gesicht war plötzlich alt und verfallen. Auf seine fragende Miene gestand sie leise:
»Kopfschmerzen ... Von diesem Wein ...«
Gonzague brach unvermittelt ab und schloß den Deckel: »Verzeihen Sie bitte«, sagte er.
Obgleich Lehrer Schatakhian, um seine musikalische Weihe zu beglaubigen, das Klavierspiel des Fremden in Fachausdrücken pries, war die Heiterkeit dahin. Kurz nachher eröffnete Frau Pastor Nokhudian den Aufbruch. Man übernachte zwar bei Freunden in Yoghonoluk, müsse aber schon bei Sonnenaufgang den Weg nach Bitias antreten. Am längsten zögerte Oskanian, der Schweiger. Als die andern schon in den Park traten, kehrte er noch einmal zurück, ging mit seinen kurzen Beinen streng und zu allem entschlossen auf Juliette zu, so daß diese leicht erschrak. Er überreichte ihr aber nur einen großen, in armenischer Schrift mit verschiedenfarbigen Tinten herrlich beschriebenen Bogen, ehe er verschwand.
Es war ein schwungvolles Gedicht verehrender Liebe.
Als Juliette in der Nacht jäh erwachte, sah sie Gabriel im Bette neben sich starr aufrecht sitzen. Er hatte seine Kerze angezündet und mußte die Schläferin schon lange beobachtet haben. Sie spürte deutlich, daß nicht die Flamme, sondern sein Blick sie aus dem Schlafe gerissen hatte.
Er berührte ihren Arm:
»Ich wollte dich nicht wecken, habe mir aber gewünscht, daß du von selbst aufwachst.«
Sie schüttelte das Haar zurück. Ihr Gesicht war frisch und freundlich:
»Du hättest mich ruhig wecken können. Mir macht das nichts. Du weißt es ja. Für nächtliche Plaudereien bin ich immer zu haben.«
»Ich habe hin und her gedacht ...«, erklärte er ungenau.
»Und ich habe göttlich geschlafen. Meine Kopfschmerzen kamen also nicht von eurem armenischen Wein, sondern vom Klavierspiel meines – comment dire? – demi-compatriote. Komischer Einfall! Yoghonoluk als Kurort zu benutzen und zu Herrn Krikor in Pension zu gehen. Das Komischste aber ist der kleine schwarze Lehrer, der mir das zusammengerollte Plakat übergeben hat. Und auch der andre Lehrer, der so langsam durch die Nase bellt! Er hält das wahrscheinlich für besonders vornehmes Französisch. Wie eine Mischung von Steineklopfen und Hundewinseln klingt das. Ihr Armenier habt alle eine sonderbare Aussprache. Selbst du bist nicht ganz frei davon, mein Freund. Nun, man muß nicht gar zu streng sein. Es sind doch recht liebe Leute.«
»Arme, arme Menschen sind es!«
Dieser Ausbruch rasselte gequält aus Gabriels Brust. Juliettens Stimme wurde weich:
»Ich habe mich gekränkt, daß du weggeritten bist, ohne mir ein Wort