Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835550
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warst ...?«

      Seine leichte Hand, ein Wunder zärtlicher Erweckungen, fuhr streichelnd an ihrem Arm, ihrer Brust, ihrer Hüfte hinab. Sie brach in ein lallendes Weinen aus. Gonzague tröstete sie:

      »Du hast noch Zeit, Juliette, dich zu entscheiden. Sieben lange Tage. Freilich, wer weiß, was bis dahin geschehen wird ...?«

      Ter Haigasun hatte nach längerer Pause den großen Führerrat einberufen. Die Männer saßen auf den langen Bänken im Sitzungsraum der Regierungsbaracke. Nur Apotheker Krikor hörte, wie es seine Gewohnheit war, den Beratungen in seiner Schlafkammer zu, ohne sich auch nur mit einem Wort an ihnen zu beteiligen. Es hatte den Anschein, als ob der Weise zum Zwecke seiner inneren Vollendung den Verkehr mit Menschen fast zur Gänze abgeschworen habe. Er sprach beinahe mit niemandem andern als mit sich selbst, dies freilich in ausgiebigem Maße in den einsamsten Stunden der Nacht. Ein Zeuge dieser Selbstgespräche wäre aus ihnen ganz und gar nicht klug geworden. Krikor reihte nämlich großartige lexikalische Begriffe in beziehungslosem Gänsemarsch träumerisch aneinander. Folgendermaßen etwa: »Brennender Erdkern ... Himmelsachse ... Plejadenschwarm ... Blütenbefruchtung ...« Diese herrlichen Worte schienen Krikors Seele über sich selbst zu erheben und sie dem Urgrund aller Dinge näher zu bringen. Er warf sie in die Luft, sie blieben über ihm in Schwebe. Er baute aus ihnen ein Kuppelgewölbe von glitzerndem Wissenschaftsmosaik, in dessen Mitte er mit dem verinnerlichten Lächeln eines buddhistischen Priesters saß. Es gibt eine Stufe des vollkommenen, des asketischen Reichtums, der sich nicht mehr mitzuteilen vermag, weil alles Erhabene asozial ist. Diese Stufe hatte Krikor vielleicht erreicht. Er belehrte die Menschen nicht mehr. Seine ehemaligen Jünger, die Lehrer, blieben aus, und auch er fragte nicht nach ihnen. Die eitlen Zeiten waren vorüber, da er auf nächtlichen Spaziergängen vor den Oskanians, Schatakhians, Asajans und anderen Staubfressern die Welten der Sterne mit den willkürlichen Zahlen und Namen seines unendlichkeitslüsternen Geistes benannt hatte. Nun kreisten die riesigen Sterne und Worte still in seinem Innern und er empfand kein prickelndes Bedürfnis mehr, von ihnen begeisterte Kunde zu geben. Apotheker Krikor konnte kaum eine Stunde schlafen. Von Tag zu Tag wütender krampfte ein grausamer Schmerz seine Sehnen und Gelenke zusammen. Als Bedros Altouni, den Körperverfall seines Freundes bemerkend, ihm die ärztliche Frage stellte, bekam er die triumphierende lateinische Antwort: »Rheumatismus articulorum et musculorum.« Kein einziges Mal kam eine Klage über Krikors Lippen. Die Krankheit war ihm gesandt, die Allmacht des Geistes zu bewähren. Sie hatte eine andere Folge noch. Um ihn herum wurde alles stumpf. Sausend entfernte sich die Wirklichkeit von ihm. Während heute zum Beispiel die Männer zu Rate saßen, folgte er ihren Worten mit den gespannten Augen und verständnislos nachahmenden Lippen eines Taubstummen. Es war, als könne er die alltäglichen Worte der Notdurft nicht mehr auffassen.

      Die Beratung währte diesmal stundenlang. Abseits saßen Awakian und der Gemeindeschreiber von Yoghonoluk, um die wichtigsten Beschlüsse als Schriftführer festzuhalten und in Form zu bringen. Vor der Regierungsbaracke hatte die Lagerwache Aufstellung genommen. Eine persönliche Anordnung Ter Haigasuns! Da der Priester ein dekorativen Gebärden abgeneigter Mann war, durfte man annehmen, daß er mit dieser Schutzmaßregel einen weitsichtigen Zweck verband. Wenn heute die Regierungswache auch keine andre Aufgabe zu versehen hatte, als dem Senat Störungen fernzuhalten und den Eintritt unbefugter Personen zu verhindern, so konnte doch einmal ein gefährlicher Tag kommen, da die Führerschaft einer Ordnungstruppe bedurfte. Ter Haigasun leitete den Rat mit halbgeschlossenen Augen und in fröstelnd müder Haltung wie immer. Den Bericht über die Ernährungslage, den der Priester zum ersten Punkt der Tagesordnung bestimmt hatte, legte Pastor Aram Tomasian als Haupt der inneren Verwaltung ab. Er entwarf ein genaues Bild. Nach dem Unglück mit dem Wolkenbruch habe der durch den Granatvolltreffer hervorgerufene Speicherbrand nicht nur die Reste des Mehls vernichtet, sondern die anderen Kostbarkeiten dazu: alles Öl, allen Wein, den Zucker, den Honig und, wenn man von Entbehrlichkeiten wie Tabak und Kaffee absieht, das unentbehrlichste von allen Dingen, das Salz. Man werde nur noch drei Tage lang das Fleisch salzen können. Was aber dieses Fleisch, dessen Genuß allen Mägen bereits widerstehe, selbst anbelangt, so nehme es in einem geradezu erschreckenden Maße ab. Die anwesenden Muchtars hätten eine Viehzählung durchgeführt und berechnet, daß der Herdenstand seit dem Aufbruch bereits um ein Drittel zusammengeschmolzen sei. So dürfe man nicht weiterwirtschaften, sonst stehe man in kurzer Zeit am Ende. Der Pastor gab das Wort an den Muchtar Thomas Kebussjan weiter, damit er den Zustand der Herden als Fachmann beschreibe. Kebussjan erhob sich, wackelte mit dem Kopf hin und her und sah mit seinen ungleichen Bauernaugen alle und niemanden an. Er begann mit einer beweglichen Klagelitanei über den Verlust seiner schönen Schafe, deren Aufzucht er seine unermüdliche Fürsorge jahrelang geweiht habe. Er erkenne seine lieben Tiere nicht wieder. In den goldenen Zeiten des früheren Lebens habe ein gutgewachsener Hammel 45 bis 50 Oka gewogen. Jetzt erreicht er kaum mehr das halbe Gewicht. Der Muchtar machte zwei Ursachen für diesen Rückgang verantwortlich. Die eine war mehr sentimentaler Natur. Die verfluchte Gemeinwirtschaft – er verkenne ja ihre Notwendigkeit nicht – schlage den Schafen schlecht an. Er verstehe seine Tiere. Sie magern ab, weil sie niemand mehr gehören, weil sie keinen Eigentümer spüren, der sich um ihr Wohl und Wehe kümmert. Die zweite Begründung aber war weniger politisch und einleuchtender. Die besten Triften innerhalb der Verteidigungsgrenzen, die nicht nur die Schafe und Ziegen, sondern auch noch die Esel zu ernähren hätten, seien ganz und gar abgeweidet. Das schlechtgefütterte Vieh könne sich nur wenig zähes Fleisch und gar kein Fett aneignen. Mit der Milch sehe es nicht besser aus. Sie fließe immer magerer, immer gehaltloser. Von Butter und Käse sei keine Rede mehr. Kebussjan kam mit trübsinnigem Klageton zum Schluß, daß man andre Weiden werde finden müssen, um den Zustand der Schafe zu bessern. Gegen diese Absicht wandte sich Gabriel Bagradian mit aller Schärfe. Man lebe nicht in Frieden und Fröhlichkeit, sondern bestenfalls in der Arche Noah mitten in einer Sintflut des Blutes. An Freizügigkeit von Mensch und Vieh sei nicht zu denken. Türkische Kundschafter umlauern den Verteidigungsring von allen Seiten. Die Herden außerhalb dieses Ringes, womöglich auf den nördlichen Höhen des Musa Dagh grasen zu lassen, bedeute ein Wagnis, für das niemand die Verantwortung übernehmen könne. Es müßten, zum Teufel, auch noch in den Lagergrenzen neue Weidegründe ausfindig gemacht werden. Man möge das Vieh auf die hohen Kuppen hinauftreiben. »Auf den Kuppen ist das Gras kurz und verbrannt«, mischte sich der Muchtar von Habibli in die Debatte, »das können nicht einmal Kamele fressen.« Bagradian ließ sich nicht beirren: »Besser wir haben mageres Fleisch als überhaupt keines!« Ter Haigasun stimmte der Warnung Bagradians zu und bat den Pastor, in seinem Bericht fortzufahren. Aram Tomasian kam auf die Brotentbehrung, auf die ungemischte Fleischkost und ihre Folgen zu sprechen. Aus hundert Gründen, nicht zuletzt um das Hinschwinden der Herden zu verhindern, sei es nötig, eiligst Abhilfe und Ersatz zu schaffen. An Beutezüge ins Tal könne nach der Neubesiedlung der Dörfer nicht mehr gedacht werden. Andrerseits werde ihm Bedros Altouni bestätigen, daß durch die Entbehrung gemischter Kost der Gesundheitszustand des Volkes schon gelitten habe. Man sehe immer häufiger fahle Gesichter und hinfällige Gestalten. Jeder hier habe ja auch an sich selbst in dieser Hinsicht unerfreuliche Erscheinungen beobachtet. Abwechslung in der Kost müsse auf jede Weise erzwungen werden. Und nun legte Aram Tomasian seinen Plan dar. Man habe bisher das Meer zu wenig in Betracht gezogen. Von gewissen Punkten der Steilseite aus sei die Klippenküste ganz leicht in einem halbstündigen Abstieg zu erreichen. Er selbst habe bei seinen Probegängen jüngst einen alten verfallenen Maultierpfad entdeckt, der sich ohne viel Mühe ausbauen lasse. Wozu besitze man berufsmäßige Straßenarbeiter unter den Männern des Volkes und den Deserteuren? Zwei Tage Arbeit, und eine bequeme Verbindung zwischen Lager und Meer sei geschaffen. Dann aber sollte eine Gruppe aus jungen Leuten, aus kräftigen Frauen und den größeren Knaben der Jugendkohorte gebildet werden, um unten in den Klippenmulden eine Salzbleiche anzulegen und eine kleine Fischerei in Gang zu bringen. Ein Floß, aus Baumstämmen zusammengebunden, und ein paar Ruderstangen genügten, sich an einer sanfteren Stelle ein paar hundert Meter hinauszuwagen. Noch heute möge man kundigen Weibern den Auftrag geben, Schleppnetze anzufertigen, so gut es gehe. Hanfstricke seien in der Stadtmulde genug vorhanden. Und ferner noch! Er, Aram Tomasian, erinnere sich aus seiner eigenen Jugendzeit, ein leidenschaftlicher Vogelsteller gewesen zu sein. Die Jungen von Yoghonoluk dürften ja diese Kunst inzwischen nicht verlernt haben. Also heraus mit Klappnetz und Vogelgabel! Anstatt herumzulungern und den Leuten zwischen die Beine zu fahren, sollen die jüngeren Knaben