Aber eines Tages die Begebenheiten in Odettes Leben, denen er seine Leiden verdankte, aufzuklären, war nicht Swanns einziger Wunsch; er hatte noch den andern in Reserve, sich zu rächen, wenn er Odette nicht mehr liebte, nicht mehr fürchtete; diesen zweiten Wunsch zu erfüllen, bot sich nun gerade Gelegenheit: Swann liebte eine andere Frau, die ihm keinen Anlaß zur Eifersucht gab, auf die er aber doch eifersüchtig war; denn er war nicht mehr fähig, seine Art zu lieben zu erneuern, und die, welche sich an Odette gewandt, diente ihm auch für eine andere. Damit Swanns Eifersucht wieder erwachte, brauchte diese Frau nicht untreu zu sein, es genügte, daß sie aus irgend einem Grunde fern war, auf einer Gesellschaft zum Beispiel, und sich dort anscheinend gut unterhielt. Das reichte hin, um die alte Bangigkeit in ihm zu erwecken, diesen jämmerlichen, widerspruchsvollen Auswuchs seiner Liebe, durch den Swann von der Wirklichkeit sich entfernte; das kam über ihn wie ein Bedürfnis, das tatsächliche Gefühl dieser jungen Frau für ihn herauszubekommen, die verborgene Sehnsucht ihrer Tage, das Geheimnis ihres Herzens; denn zwischen Swann und die, die er liebte, häufte seine Bangigkeit spröden, veralteten Argwohn, der seine Ursache in Odette oder vielleicht schon in einer Vorgängerin von Odette hatte und den gealterten Liebenden seine Geliebte von heute nur durch das alte Kollektivphantom der ›Frau, die seine Eifersucht erregte‹ hindurch wahrnehmen ließ. In diesem Phantom verkörperte sich seiner Willkür auch die neue Liebe. Wohl warf Swann dieser Eifersucht oft vor, sie lasse ihn an eingebildeten Betrug glauben; dann aber erinnerte er sich, daß er die gleiche Überlegung zugunsten Odettes angestellt habe, und zwar mit Unrecht. Und so hörte alles, was die junge Frau, die er liebte, in den Stunden tat, da er fern von ihr war, auf, unschuldig zu sein. Hatte er aber einst den Schwur getan, wenn er die, von der er nicht ahnte, daß sie einmal seine Frau werden sollte, nicht mehr liebe, ihr unerbittlich seine endlich aufrichtige Gleichgültigkeit zu zeigen, um seinen lange gedemütigten Stolz zu rächen, – so lag ihm jetzt nichts mehr an dieser Vergeltung, die er doch ohne Risiko vollziehen konnte (denn was würde es ihm ausmachen, wenn er beim Wort genommen und des einst für ihn so notwendigen Zusammenseins mit Odette beraubt würde?). Nichts lag ihm mehr daran, mit der Liebe war das Begehren, zu zeigen, daß er nicht mehr liebe, verschwunden. Er, der einst, als er an Odette litt, sich danach sehnte, ihr einmal zu zeigen, daß er in eine andere verliebt sei –, jetzt, da er es gekonnt hätte, traf er tausend Vorsichtsmaßregeln, damit seine Frau von der neuen Liebe nichts merke.
Von nun an nahm ich nicht nur an den Teegesellschaften teil, derentwegen Gilberte mich ehedem zu meinem Kummer verließ und früher heimkehrte, nein, auch an den Ausfahrten mit ihrer Mutter zur Promenade oder zu einer Matinee, die sie früher verhindert hatten, in die Champs-Élysées zu kommen und mich ihrer beraubten – in Tagen, wo ich dann allein am Rasenrande oder vor den Karussells blieb, – an diesen Ausfahrten ließen mich jetzt Herr und Frau Swann teilnehmen, ich hatte meinen Platz in ihrem Landauer; ich wurde sogar gefragt, was ich lieber wolle, ins Theater gehen, in eine Tanzstunde bei einer Freundin von Gilberte, in eine Nachmittagsgesellschaft bei Freundinnen der Swann (was Frau Swann einen »kleinen meeting« nannte) oder die Gräber von Saint-Denis besuchen.
An den Tagen, an denen ich mit den Swann ausfahren sollte, kam ich zum Dejeuner, was Frau Swann Lunch nannte, zu ihnen; da man dazu auf halb Eins eingeladen wurde und meine Eltern damals um viertel Zwölf frühstückten, machte ich mich erst, wenn sie von Tische aufstanden, auf den Weg nach dem luxuriösen, immer – und zu dieser Zeit, da alle Welt zu Hause war – besonders einsamen Viertel. Bei schönem Wetter spazierte ich selbst im Winter und bei Frost, von Zeit zu Zeit den Knoten einer herrlichen Krawatte von Charvet fester knüpfend und nachschauend, ob meine Lackschuhe nicht schmutzig würden, in den Avenuen bis zwölf Uhr siebenundzwanzig auf und ab. Von weitem bemerkte ich den Vorgarten der Swann, wo die Sonne die entlaubten Bäume wie von Rauhreif glitzern ließ. In Wirklichkeit standen nur zwei in diesem Garten. Die ungewohnte Stunde machte das Schauspiel neu. In diese Naturfreuden (die noch die Unterbrechung der Gewohnheit und selbst der Hunger belebten) mischte sich die erregende Gewißheit, bei Frau Swann zu speisen, sie verminderte diese Freuden nicht, aber unterwarf und beherrschte sie, machte aus ihnen mondänes Zubehör; das schöne Wetter, die Kälte, das winterliche Licht, die ich um diese Zeit sonst nicht wahrnahm und nun für mich entdeckte, wurden zu einer Art Vorspiel zu den Oeufs à la crème, zu einer Patina und frischen rosigen Glasur auf der Mauerverkleidung der geheimnisvollen Kapelle, in der die Swann weilten und in deren Innern als Gegensatz mich soviel Wärme, Düfte und Blumen erwarteten.
Um halb Eins entschloß ich mich endlich, in das Haus einzutreten, das, wie ein besonders großer »Schuh« für die Weihnachtsgeschenke, mir übernatürliche Freuden zu versprechen schien. (Das Wort Weihnachten kannten übrigens Frau Swann und Gilberte nicht, sie sagten Christmas, sprachen nur von Christmaspudding, von dem, was man ihnen zu Christmas geschenkt habe und – zu meinem wilden Schmerz – davon, daß sie zu Christmas verreisen wollten. Nun hielt ich es auch, selbst zu Hause, meiner unwürdig, von Weihnachten zu sprechen, ich sagte nur noch Christmas, was mein Vater sehr lächerlich fand.
Zunächst begegnete ich nur einem