»Ich will Martin nahe sein.«
Bettina schaute ihre Freundin an, als habe die soeben Suaheli gesprochen.
»Du willst …, du willst …«, stammelte sie herum.
»Ja, du hast schon richtig verstanden, ich will Martin nahe sein.«
Bettina konnte ja verstehen, dass Linde noch immer unter dem schrecklichen, ach so unsinnigen Unfalltod ihres Mannes litt, dass sie diesen liebenswerten Menschen nicht vergessen konnte, der ihre große Liebe gewesen war. Aber um ihm nahe zu sein, musste Linde doch nicht eine beschwerliche Reise nach Portugal auf sich nehmen.
»Linde, du kannst ihm überall nahe sein, weil er in deinem Herzen weiterlebt, in deinen Kindern, die ihm von Tag zu Tag mehr gleichen. Deswegen musst du doch nicht nach Portugal reisen.«
Linde trank etwas, verzog das Gesicht, bestellte sich bei einer gerade vorübereilenden Kellnerin einen neuen Tee.
»Das verstehst du nicht, Bettina, das versteht niemand. In Portugal bin ich ihm näher als anderswo sonst … Außerdem …, ich habe …, ich habe von Martin geträumt. Es war ein sehr intensiver Traum, in dem mir aber einiges nicht ganz klar geworden ist, ich glaube, in Portugal werde ich die Auflösung finden.«
Das war doch nicht Linde, ihre klar denkende, praktische Freundin.
Wegen eines Traumes wollte sie nach Portugal fahren? Das war verrückt, das musste sie ihr irgendwie ausreden.
Linde ahnte wohl Bettinas Gedanken.
»Du wirst mich nicht davon abbringen, das kann niemand, denn mein Entschluss steht fest, mein Flug ist gebucht, die Zimmer reserviert.«
Wilde Entschlossenheit hatte aus Lindes Worten geklungen, und Bettina wusste, dass sie jetzt nicht mehr gegenreden durfte, aber ihr Angebot, Linde zu begleiten, konnte sie wiederholen. Doch auch diesmal stieß sie erneut auf Granit. Linde wollte mit den Kindern allein fliegen, basta! Diese Entschlossenheit hatte sie auch gezeigt, als sie, hochschwanger, mit Martins Asche nach Portugal gereist war, um sie im Meer zu verstreuen. Da hatte sie auch niemanden bei sich haben wollen, als es darum ging, Martins letzten Wunsch zu erfüllen.
Bettina trank etwas von dem wirklich köstlichen Tee, der herrlich schmeckte, belebte.
Linde hatte ihn in dieser Form, mit der frischen Minze, neu in ihr Angebot aufgenommen, und es schien Anklang zu finden, denn Bettina sah, wie immer wieder Tabletts mit dem Tee vorbeigetragen wurden, der in den transparenten, schön geformten Gläsern auch sehr hübsch aussah.
Linde dachte sich immer etwas Neues aus, und was sie anpackte, machte sie zu Gold. Deswegen war es so unvorstellbar, was sie jetzt plante, weil es so gar nicht zu ihr passte.
»In den letzten Monaten habe ich meine Gedanken an Martin oftmals verdrängt«, drang Lindes Stimme leise an Bettinas Ohr. »Ich brauchte meine Kraft für die Zwillinge, ich klammerte mich an deinen Bruder Christian, der mir wirklich eine sehr, sehr große Hilfe war. Weil er mir so unaufdringlich half, dachte ich sogar schon manchmal daran, ob er irgendwann vielleicht der neue Mann in meinem Leben sein könnte.«
Wenn sie so weitermachte, würde man ihr einen weiteren Tee servieren müssen, dachte Bettina beinahe belustigt, denn Linde trümmerte auch jetzt wieder die grünen Blättchen, daran konnte man erkennen, wie angespannt sie innerlich war.
Linde blickte ihre Freundin an.
»Christian kann es nicht sein, niemand kann es sein. Es ist einfach so, dass ich bereits jetzt sagen kann, dass niemand Martins Platz einnehmen kann. Ihn habe ich geliebt, und ihn werde ich niemals vergessen, für ihn gibt es einfach keinen Ersatz.«
»Linde, man soll nie nie sagen. Du weißt doch überhaupt nicht, was noch auf deinen Weg kommt. Schön, Christian scheint es nicht zu sein, schade eigentlich. Er hat sich, und das sage ich jetzt im Vertrauen, in dich verliebt. Deswegen ist er mit der Praxis auch so zögerlich.«
Linde trank einen kleinen Schluck, stellte ihr Glas wieder ab, legte aber jetzt wenigstens den Löffel beiseite, den sie vorher für ihr Werk der Zerstörung der Minzeblättchen eingesetzt hatte.
»Ich weiß, Bettina. Wir haben offen darüber gesprochen. Ich mag Christian, sehr sogar, aber mehr als ein Freund kann er niemals für mich sein.«
Das hatte sie so betont, so heftig gesagt, dass Bettina ein Verdacht kam.
»Linde, ich bin deine beste Freundin, mir gegenüber kannst du offen sein … Kann es – vielleicht irre ich mich – nicht so sein, dass du für Christian mehr empfindest, als du dir im Moment gestatten willst, glaubst, dir gestatten zu dürfen?«
Sie hatte ins Schwarze getroffen, auch wenn Linde das jetzt nicht zugeben wollte.
»So ein Quatsch, wie kommst du bloß auf einen solchen Unsinn. Ich mag Christian, er ist ein wundervoller, sehr einfühlsamer Mensch, mit ihm kann ich mich unterhalten, er mag meine Kinder, und er …«
Sie brach ab, griff nach ihrem Glas, trank hastig.
»Er hat alle guten Eigenschaften«, sagte Bettina leise, »aber verlieben darfst du dich in ihn nicht. Warum nicht? Weil es noch nicht an der Zeit ist? Weil es unschicklich wäre? Ach, Linde, dein Verstand kann dir alles mögliche vorgaukeln, ein Herz niemals. Einem Herzen kann man nicht befehlen, es spricht seine eigene Sprache und fragt nicht, ob etwas angemessen ist, ob genügend Zeit vergangen ist. So etwas ist doch Unsinn. Glaubst du, die Moral ist eine andere, wenn du dich erst nach einer schicklichen Zeit in jemanden verliebst oder jetzt? Außerdem, was ist eine schickliche Zeit? Wie kann man so etwas festlegen? Wer kann es? Es ist doch genauso wie man glaubt, Monate, ein Jahr Trauer tragen zu müssen. Die Trauer trägt man in seinem Herzen und muss sie nicht durch schwarze Kleidung nach außen bringen.«
Linde war aufgesprungen.
»Komm, lass uns nach oben gehen, bestimmt willst du doch die Kleinen sehen.«
»Ja, das möchte ich gern«, antwortete Bettina und erhob sich ebenfalls. Über dieses Thema würde Linde jetzt kein Wort mehr verlieren.
Aber wenn es wirklich zutraf, dass sie ihr Herz, vielleicht auch nur einen Teil ihres Herzens, an Christan verloren hatte, dann musste sie doch nicht den Umweg über Portugal gehen, um das zuzulassen.
Martins Asche war zwar dort verstreut, aber er würde ihr keine Antwort geben. Und wenn das möglich wäre, würde er sie auffordern, sich neu zu verlieben, wieder glücklich zu werden, dessen war Bettina sich absolut sicher.
*
Nach dem Besuch bei Linde war Bettina schon den halben Hügel zum Fahrenbach-Hof hinaufgefahren, als sie unvermittelt bremste, wendete und zurückfuhr, nicht zurück zum Gasthof, nein, sie hatte ganz einfach das Bedürfnis, in die Kapelle zu gehen, dort still zu verweilen, Kerzen anzuzünden.
Sie wusste, dass man sich hier und da über sie lustig machte, weil sie diesen anheimelnden Ort der Stille so oft aufsuchte, doch darüber setzte sie sich hinweg. Für sie war es wichtig, ihr gab es etwas. In Augenblicken der Verzweiflung hatte sie immer Trost in der Kapelle gefunden, und auch wenn sie glücklich war, suchte sie diesen Ort auf, um sich für all das Glück zu bedanken. Manchmal kam sie aber auch ohne Grund, einfach nur, um still dazusitzen, in sich zu lauschen, es war fast wie eine Meditation.
Es machte sie so glücklich, dass einer ihrer Vorfahren diese Kapelle errichten ließ und dass sie von den Fahrenbachern gern genutzt wurde, die hier ihre Kinder taufen ließen, heirateten, die Trauergottesdienste wurden hier abgehalten, aber die Leute kamen auch, genau wie sie, um einfach zu verweilen, Kerzen anzuzünden, Blumen zu bringen.
Bettina stellte ihr Auto an der letzten Kehre ab, dann ging sie das letzte Stück des Weges zu Fuß. Sie lauschte dem munteren Geplätscher des Baches, der hügelab seinen Weg suchte, um sich unten im Dorf mit dem Fluss zu vereinen.
Sie wunderte sich, dass die schwere, reich verzierte Eichentür nur angelehnt war. Eigentlich wurde die Tür immer sorgsam verschlossen, um zu verhindern, dass Tiere sich in der Kapelle verirrten.
Bettina