Der Abend sank bereits, als Lili frisch ausgeschlafen mich aus den Kissen zog. Die Schöne war schon wieder schön gekämmt und zurechtgemacht und hatte sich jetzt augenscheinlich mit der Bedeutung des Tages abgefunden. Sie ordnete auch mir noch einmal die Haare mit all der Liebe und Sorgfalt, die sie sonst darauf zu verwenden pflegte. Dann kehrten wir, von den Müttern abgeholt, zu dem Brautfest zurück, das unterdessen im gedeckten Raume ohne Braut weitergegangen war. Der Bräutigam nahm endlich sein schönes Eigentum in Empfang und entführte sie in die dämmernden Gartenwege am Neckar, die schon wieder aufgetrocknet waren. Das Fest löste sich auf, neue Gäste kamen in die Neckarmüllerei, die nicht zu den Geladenen gehörten. Wenn ich nicht irre, war auch der ernste Vaillant darunter. An einem Nebentisch wurde wieder politisiert. Einer erhob sich und sagte mit Emphase: Meine Herren, das Jahr Achtundvierzig pocht mit ehernem Finger an die Türe – dabei klopfte er mit dem Fingerknöchel auf die Tischplatte – ich sage: das Jahr Achtzehnhundertundachtundvierzig – aber an die Tür pochte etwas völlig andres, denn gleich darauf verbreitete sich die Nachricht von der Emser Depesche.
Lilis Brauttag beschloss auch für mich den Reigen der Jugendfeste, in die wie ein Blitzstrahl die Kriegserklärung Frankreichs schlug. Die männliche Jugend eilte zu den Fahnen. Unser französischer Hausfreund war genötigt, Deutschland zu verlassen. Frau Wilhelmi mit ihrem Töchterchen begleitete ihn nach Genf, wo er zunächst noch weiterstudieren wollte. Auch die Andersdenkenden verfolgten seine Wege mit Spannung. Vaillant zweifelte keinen Augenblick, dass nunmehr die Stunden des Empire gezählt seien, denn er rechnete bestimmt auf eine französische Niederlage. Aber er liebte dieses Frankreich ebenso glühend, wie er seine Laster hasste, und es war Patriotismus, dass er den deutschen Waffen den Sieg wünschte, weil sein Vaterland nur durch schwere Schläge, durch eine harte Erziehung gesunden könne. Napoleons Abdankung rief ihn auf französischen Boden. Allein die Republik Gambettas war nicht die seinige. Während der Belagerung von Paris half er mit Feuereifer die Erhebung vom 18. März vorbereiten und wurde vom Zentralausschuss in die Kommune gewählt, die an gebildeten Mitgliedern keinen Überfluss hatte. Von nun an war Vaillants Name in allen europäischen Zeitungen zu finden. Er wurde zuerst an die Spitze der inneren Angelegenheiten, dann an die des Unterrichtswesens berufen. Welche Rolle er in der Kommune gespielt hat, ist aus den widersprechenden Zeugnissen schwer zu erkennen. Dass er die Erschießung der Geiseln und andere Gewalttaten guthieß, kann ich bei seinem Fanatismus kaum bezweifeln. Er ließ die Kruzifixe aus den Schulen entfernen und setzte mit einem Federstrich dreiundzwanzig Beamte der Nationalbibliothek ab, mit deren gänzlicher Neubildung er den ehrwürdigen Gelehrten Elie Reclus betraute; das ist so ziemlich das einzige, was von seiner Verwaltungstätigkeit berichtet wird. Seine Parteigenossen warfen ihm vor, dass ihm die deutsche Philosophie den Tatsachensinn benebelt habe, und ich will gern glauben, dass der Mann der Theorie sich als Organisator wenig bewährte, aber Hegel war gewiss unschuldig daran. Übrigens waren die Vorwürfe gegenseitig, denn er seinerseits nannte bei einer Abstimmung die Kommune ein Parlament von Schwätzern, das heute zunichte mache, was es gestern geschaffen. Gleichwohl hielt er es für seine Pflicht, als einer ihrer Führer bis zum Ende auszuharren, und beim Einzug der Versailler kämpfte er auf den Barrikaden mit. Als seine Sache verloren war, gelang es ihm, durch die Einschließungslinie zu entkommen und sich als Eseltreiber verkleidet über die Pyrenäen auf spanischen Boden zu retten, von wo er nach England ging. In den Zeitungen hieß es mehrmals, dass ein falscher Vaillant erschossen worden sei. Es wurde auch wirklich einer, der ihm ähnlich sah, ergriffen und nach Versailles geschleppt, aber durch die Dazwischenkunft A. Dumas’, der ihn kannte, gerettet. In Frankreich war das Märchen verbreitet, die preußischen Truppen hätten Vaillant freundwillig durchgelassen wegen seiner guten Beziehungen zu Deutschland.
Die Weltereignisse trieben auch in unser abseits gelegenes Haus ihre Wellen. Mein Vater war feurig deutsch gesinnt und hatte den Anschluss an Preußen trotz 66 mit Begeisterung begrüßt; in der Gründung des Reiches sah er eine lebenslange Sehnsucht erfüllt. Meine Mutter aber konnte ihre Empfindungsweise nicht umschalten, sie beharrte mit einseitiger Treue in der revolutionären Dogmatik ihrer Jugend. Mit dem französischen Geist war sie ja ebenso durch ihre adlige Erziehung wie durch ihre 48er Vergangenheit verwachsen. Ein Krieg gegen Frankreich, das sie liebte und von dem sie als erstem die Verwirklichung ihrer Freiheitsideale erhoffte, schien ihr eine Ungeheuerlichkeit. Niemand hat gläubiger an dem Lehrsatz festgehalten, dass Frankreich der berufene Soldat der Freiheit sei. Gegen Preußen bewahrte sie ihren alten Groll und für Bismarcks Größe war sie ein für allemal unempfindlich. Diese Dinge mit ihr zu erörtern wäre zwecklos gewesen, mein Vater wusste, dass sie unbekehrbar war. Ihre tiefe Liebe und seine weise Mäßigung ließen es zu keinem Zwiespalt kommen, doch über das, was die Allgemeinheit am stärksten bewegte, konnte zwischen ihnen nicht gesprochen werden.
Edgar befand sich im Alter der höchsten Ideologie und stand unter Vaillants und Mülbergers Einfluss. Das vaterländische Ideal war ihm zu eng, er glaubte an die Marxsche Internationale. Der edle Irrtum, der mit Überspringung der nächsten Stufe ein höheres ferneres Ziel vorausnehmen und sich auf den vielleicht nach Jahrhunderten eintretenden Zustand einer entwickelteren Menschheit einstellen will, ist ja gerade für die deutsche Seele so bezeichnend. Die Sozialdemokratie sah er nicht wie sie damals war, sondern wie er hoffte, dass sie werden würde, und umgab sich mit Gestalten, die zu seiner eigenen vornehm-zarten Persönlichkeit im stärksten Gegensatz standen. In seiner Großmut verschlug es ihm nichts, dass er sich durch seinen Anschluss an die Partei der Ausgestoßenen um die schönsten Möglichkeiten seiner späteren Laufbahn brachte. Denn für die bürgerlichen Kreise war damals die Sozialdemokratie der leibhaftige Gottseibeiuns. Das erfuhr einer unserer jungen Freunde, den seine Mutter, eine fromme Pfarrerswitwe, himmelhoch bat, doch während des gewittrigen Sommers keinen »Volksstaat« in der Wohnung aufzustapeln, damit der Blitz nicht ins Haus schlage.
Bei der politischen