So hatte ich glücklich das sechzehnte Jahr erreicht. Aber das große, außerordentliche, jenes unfassbare »Es« wollte nicht kommen. Es blieb nichts übrig, als in Fantasie und Dichtung nach dem Stoffe zu suchen, den das eigene Leben nicht zu bieten hatte. Auch für andere gab es in der Enge des Daseins keine rechte Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Als mir einmal eine bildhübsche Altersgenossin geheimnisvoll anvertraute, dass ihr bei der Parade in Stuttgart ihr Lieblingsdichter Theodor Körner erschienen und ihr zu Pferde bis an die Haustür gefolgt sei, hütete ich mich wohl zu erwidern, es werde eben ein Offizier der Garnison dem Sängerhelden ähnlich sehen, sondern ließ die Sache dahingestellt, da ich ja doch täglich auch auf ein Wunder wartete. Sollten denn nicht um der Sechzehnjährigen willen, wenn sie gar so niedlich sind, die Längstverstorbenen aus den Gräbern steigen? Was mich betrifft; so suchte ich mir meine Schwärmereien natürlich unter den Griechen. Es war ja das Schöne, dass gar kein Bücherstaub auf ihren Häuptern lag, weil Mama uns von klein auf gewöhnt hatte, mit ihnen wie mit Lebendigen zu verkehren. Man ging in ihre Welt, wie man in ein anderes Stockwerk tritt; so konnte man sie auch nach einer Ballnacht gleich wieder finden. Mit der Zeitrechnung ließ ich mich ohnehin nicht ein. Alles Vergangene war mir noch vorhanden und nur wie zufällig abwesend. Wenn ich des Nachts im Bette noch mit dem Nachhall der Tanzmusik in den Ohren ein Kapitel im Plutarch las, so war das keine Literatur, sondern ein Wiedersehen mit alten Freunden. Vor allem schien es mir, als hätte ich den Alkibiades persönlich gekannt. Denn je weniger das Auge im damaligen Schwabenland durch Glanz und Grazie der Persönlichkeit verwöhnt wurde, desto größeren Wert gewannen diese Eigenschaften. Die Haltung und das Lächeln, womit in Platons Gastmahl der bändergeschmückte Alkibiades in Begleitung der Flötenspielerin über die Schwelle tritt, standen mir so deutlich vor Augen, dass ich Jahre später vor der antiken Grippe des auf den Ampelos gestützten Dionysos in den Uffizien zu Florenz beinahe ausgerufen hätte: Das ist er ja! Genau so angeheitert und mit so genialer Leichtfertigkeit sah ich den Athener über jene Schwelle treten. Wenn ich nun von dieser Gestalt sprach, geschah es mit einem Ausdruck allerpersönlichsten Wohlgefallens, wodurch ich treue Freundesherzen, die mit dem Alkibiades keine Ähnlichkeit hatten, sehr vor den Kopf stieß. Einer von ihnen gestand mir noch nach vielen Jahren, dass er eine Zeit lang bitter eifersüchtig auf den schönen Athener gewesen sei. Der Sinn für die äußere Erscheinung war in meiner damaligen Umwelt sehr wenig entwickelt. Über die Schönheit menschlicher Körperformen herrschte die größte Unsicherheit; es fiel mir später in Italien sehr auf, wie genau das südliche Volk darüber Bescheid weiß. Auch wurde nur die weibliche Schönheit bewundert, bei Männern galt sie eher für einen Makel und nahezu für unvereinbar mit mannhaften Eigenschaften. Vernachlässigung des eigenen Körpers wurde mit Bewusstsein, wenn nicht gar mit sittlichem Stolz geübt. Was Wunder, dass ich, die von den Griechen herkam, den Wert der Schönheit noch übertrieb und Adel der Erscheinung für das Allerwesentlichste ansah, für das Gefäß und Siegel der Vollkommenheit!
1870
Wir befanden uns mitten im Sommer 70. In Niedernau wurde eifrig getanzt. Hedwig Wilhelmi war mit ihrer jetzt zwölfjährigen Berta aus Granada gekommen und bewohnte ein Haus in der Gartenstraße, verbrachte aber fast ihre ganze Zeit mit uns. Auch Lili hielt sich unter den Fittichen ihrer Mutter wieder in Tübingen auf. Sie stand jetzt im achtzehnten Jahr und ihre Mädchentage waren gezählt, denn dies war die äußerste Frist, die ihre Mutter ihr gestellt hatte, um ihre Wahl fürs Leben zu treffen; die selbst noch schöne und begehrte Frau war im Begriff sich wieder zu verheiraten und wollte zuvor die Tochter glücklich versorgt wissen. Unter Lilis Verehrern war einer, der sich schon in ihrem dreizehnten Jahr, als sie mit dem Pelzmützchen und der wippenden Krinoline zur Schlittschuhbahn ging, in den Kopf gesetzt hatte, die junge Grazie dereinst heimzuführen. Lili hatte sich all die Jahre leise gewehrt, weil der Sanften, Willenlosen bei dem starken Willen und der rücksichtslosen Tatkraft des Freiers etwas bänglich zumute war, aber dieselben Eigenschaften gaben der Mutter die Überzeugung, dass er der rechte sei, das Glück ihrer Tochter zu bauen. So war Lili eines Tages Braut, ohne recht zu wissen, wie, und die Hand, in die sie diesmal die ihre legte, fasste mit festem Griffe zu, der nicht mehr losließ. Sie fand sich mit ihrer gelassenen Liebenswürdigkeit auch in diese neue Lage. Bei der öffentlichen Verlobung, die in der »Neckarmüllerei« mit Champagner gefeiert wurde, bat sie sich aus, noch einmal zwischen ihren zwei Herzensschwestern, mir und der kleinen Berta, sitzen zu dürfen. Es war ein letztes Anklammern an die Mädchenzeit, das der Bräutigam verstand und schonte. Unter der festlichen Laube gab sie mir jetzt die letzte Anleitung in der Lebenskunst. Champagnertrinken gehöre zur Weltbildung, hatte sie mir öfters zu verstehen gegeben, das sei so recht das Tüpfelchen aufs I. Ich schämte mich also, noch keinen getrunken zu haben. Aber nach dem ersten Glas wurden mir zu meiner Verwunderung die Augendeckel schwer, und als Lili mir zur Auffrischung das zweite eingoss, begannen die Gegenstände zu verschwimmen. Die kleine Berta war im gleichen Fall, daher Lili, die zugab, etwas Ähnliches zu empfinden, uns nunmehr eine Gehprobe anriet. Wir zwei Jüngeren standen auf, die schöne Braut, die sich den ganzen Tag nicht von uns trennen