In Scheibles »Kloster« hatten wir die Anleitung zu weißer und schwarzer Magie gefunden, den Schlüssel Salomonis und Fausts Höllenzwang. Wir studierten und rätselten an dem Schemhamphorasch und dem geheimnisvollen Abrakadabra herum, das wir auf großen Papierbogen kunstgerecht abwandelten. Wenn wir uns aber unbeobachtet wussten, so versuchten wir uns am Höllenzwang. Wir malten alsdann mit Kreide einen Zauberkreis auf den Fußboden, füllten ihn mit den vorgeschriebenen Zeichen und Zahlen aus, stellten uns eng zusammengedrängt hinein, wobei streng zu beachten war, dass auch kein Zipfel eines Kleidungsstückes über den magischen Kreis hervorstehe, weil das sehr gefährlich gewesen wäre, und befahlen den höllischen Herrschaften zu erscheinen. Dass sie nicht gehorchten, war mir sehr angenehm; ich hätte auch nicht gewusst, was von ihnen verlangen, denn ich trug weder nach Schätzen noch nach übermenschlichem Wissen ein sonderliches Begehr. Aber des Nachts in meinen Träumen erschienen sie doch und nahmen mir den Frieden. Wie die andern sich zu den inneren Folgen unserer Höllenkünste stellten, weiß ich nicht. Von Edgar kann ich annehmen, dass er seine Überlegenheit wahrte, denn er verstand es, durch Willenskraft trotz starker Fantasieanlage alle abergläubischen Regungen niederzuzwingen, wie ich ihn überhaupt bei seiner zarten Körperbeschaffenheit niemals und vor keiner Sache in Furcht gesehen habe. Wie gern hätte ich es ihm darin gleichgetan! Im Scheible waren die alten Puppenspiele von Faust und die Geschichte seines Famulus Christoph Wagner abgedruckt, worin der letztere nach seines Meisters Höllenfahrt sich selber auf die Zauberei verlegt und nach Ablauf der bedungenen Zeit von seinem höllischen Diener, dem Auerhahn, zerrissen und in den Schwefelpfuhl abgeführt wird. Auf dem Stich, der diese gräuliche Begebenheit darstellte, waren die Gebeine des unseligen Famulus zu sehen, wie sie der böse Geist herumgestreut hat, schauerlicherweise abgenagt wie Küchenknochen. Diese Abbildung grub sich mir mit unverlöschlichen Zügen ins Herz, und sobald ich nachts die Augen schloss, stand sie vor mir, dass mich das Grauen übermannte. Ich glaubte zwar kein Wort von der ganzen grauslichen Geschichte und sah auch das Bild bei Tage mit überlegenem Lächeln an, aber im Dunkeln wurde ich wehrlos. Erst als ich Goethes Faust kennen lernte, schoben sich die reinen Gestalten der Dichtung vor jene Spuk- und Zerrbilder, die durch sie entkräftet und gebannt wurden. Die Angstträume aber dauerten meine ganze Jugend hindurch in veränderter Gestalt fort und steigerten sich mitunter bis zur Halluzination. Das Schlimmste war, so oft die Liebsten und Nächsten durch irgendein rätselhaftes eigenes Verschulden im Traume verlieren zu müssen. Erst wenn die Sonne wieder Macht bekam, auch solang sie sich noch unter dem Horizont befand, fiel der Alpdruck ab. Welche Erlösung, wenn dann noch in der Dämmerung von der Küche her, wo die treue Josephine waltete, ein unterdrücktes Geräusch vernehmbar ward und mit einem Male sich der Geruch frisch gemahlener Kaffeebohnen durch das Haus verbreitete. Gottlob, die Lieben lebten noch, es gab noch einen Morgenkaffee auf der Welt, und die sorgende Liebe wachte auch heute. Ich möchte doch die Seligkeit meiner ersten Jugend nicht zurückhaben, wenn ich all die Angst, das Schuldgefühl, die bösen Träume und was sonst die junge Seele bedrängte, wieder in Kauf nehmen müsste.
Unterdessen hatte auch das Lesegift, womit ich mich durchtränkte, allmählich aus sich selbst ein heilsames Gegengift erzeugt: ich begann selber zu schreiben, was die Ängste wundersam beschwichtigte. Der derbe, volkstümliche Stil des Faustschen Puppenspiels hatte mir’s angetan und drängte mich, ein Drama in der gleichen Stilart zu verfassen. Ich wählte mir einen Helden aus der vaterländischen Geschichte, Herzog Ulrich von Württemberg, nicht als hochherzigen Verbannten, wie ihn Hauff verherrlicht hat, sondern vor seinem Sturz in der Tyrannenlaune. Woher ich das geschichtliche Rüstzeug erhielt, weiß ich nicht mehr, vermutlich beschaffte es der gute Papa aus der ihm unterstellten Universitätsbibliothek. Ulrichs Ehezwist mit der zungenschnellen Sabine von Bayern und die Liebe zu der schönen, sanften Ursula Thumbin, der Gemahlin seines Stallmeisters Hans von Hutten, gab die Fabel des Stückes ab. Dass ein später Nachfahr des Thumbschen Geschlechtes, der Baron Alfred Thumb, ein Jugendfreund und ehemaliger Verehrer meiner Mutter, nach dem mein Bruder Alfred benannt war, uns häufig besuchte und uns auf sein Schlösschen in Unterboihingen einlud, hatte auf meine Muse begeisternd miteingewirkt. Natürlich durfte der von der Fama umhergetragene Fußfall des stolzen Herzogs vor seinem Vasallen, den er vergeblich mit ausgebreiteten Armen anflehte, zu gestatten, »dass er seine eheliche Hausfrau liebhaben möge, denn er könn’ und wöll’ und mög’s nit lassen«, in meinem Stück nicht fehlen. Ich ließ sogar in meiner Einfalt den Landesvater einen Frauentausch vorschlagen, der von dem Hutten mit Hohn zurückgewiesen wird.
Und da nun dieser, nachdem er den kitzligen Vorgang stadtkundig gemacht, so unvorsichtig ist, dem tiefgekränkten Gebieter ungewappnet zur Jagd im Schönbuch zu folgen, überfällt und erschlägt ihn der Furchtbare im einsamen Forst und hängt höchsteigenhändig den Toten an eine Eiche, wie in der Geschichte Württembergs mit kleinen Abweichungen zu lesen. Am Schluss musste noch Ulrich von Hutten als Vetter des Erschlagenen und als Genius einer neuen Zeit auftreten und dem Despoten seinen feierlichen Bannfluch zuschleudern: Tu Suevici nominis