Jetzt kam Dulk nach Tübingen, um meinem Vater, den er bis dahin nicht gekannt hatte, ein neuverfasstes Lustspiel vorzulesen. Er brachte eine seiner Frauen und seine Tochter Anna mit, die meine Altersgenossin war und sich schnell an mich anschloss. Dulk war ein hochgewachsener schöner Mann mit schwarzem Haar und Bart bei blauen Augen und klargeschnittenen Zügen. Auffallend wirkten in der süddeutschen Luft sein scharfer ostpreußischer Akzent und die straffen norddeutschen Bewegungen. Auch sein ganzes Wesen war norddeutsch ernsthaft und immerzu feierlich pathetisch; der Schwabenhumor blieb ihm und er dem Schwabenhumor unverständlich. So hatte auch seine Anknüpfung mit meinem Vater kein ersprießliches Ergebnis. Es war damals im Schwabenlande üblich, dass die Männer alle ihre besonderen Angelegenheiten beim Glase abmachten, darum »strebten« auch die beiden an jenem warmen Sommernachmittag nach einem kleinen Wirtsgärtlein in dem nahegelegenen Dorfe Derendingen. Allein mein Vater konnte der erzwungenen Laune des Dulkschen Stückes keinen Geschmack abgewinnen und kam ziemlich angegriffen von der Sitzung nach Hause. Auf die Frage des Verfassers, was er davon halte, hatte er geantwortet: Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Entweder hat das Stück keinen Humor oder ich habe keinen. Jener aber verstand die Meinung nicht und sagte beim Nachhausekommen zu meiner Mutter: Ich kann nicht herausbringen, was Ihr Gemahl von dem Stücke hält, suchen Sie es doch zu ergründen. – Es fehlte seiner immerwachen Geistigkeit an dem ergänzenden Gegenstück der Naturhaftigkeit, aus welcher gegensätzlichen Verbindung erst der Humor entspringt; der reine Geistesmensch hat keinen und der reine Naturmensch ebensowenig. Dulks Dichtungsart hatte durchgängig etwas prinzipienmäßig Gedankliches, denn seine Begabung war nicht trieb-, sondern willenhaft. Er gehörte zu den stärksten Willensmenschen, die mir begegnet sind. Dieser starke Wille, auf das gerichtet, was eigentlich außerhalb der Willenssphäre liegt, machte ihn den Schwaben, denen die Poesie ein inneres Blühen des Menschen, fast mehr nur einen Zustand als eine Tätigkeit bedeutete, einigermaßen unheimlich, und er blieb immer ein Fremder unter ihnen, obwohl er württembergischer Staatsbürger geworden war.
Die zarte, hochaufgeschossene Anna durfte ein paar Tage bei mir bleiben, woraus sich eine dauernde Freundschaft entspann. Sie wurde jedes Jahr auf ein paar Wochen unser Gast, und auch ich durfte sie in Stuttgart besuchen. Einmal – es war während des 70er Krieges – wohnte ich auch einer Sonntagsfeier im Dulkschen Hause bei, die mit wechselnden Gesängen und Anrufungen an die Weltseele einen ganz lithurgischen Charakter hatte.
Die Geburt der Tragödie
Wenn ich mein Lebensbuch zurückblättere, so kann ich seltsamerweise keine inneren Wandlungen finden, vielmehr scheint es mir, als hätte ich von der Stunde meiner Geburt an immer im gleichen geistigen Luftkreis gelebt. Diesen Umstand weiß ich mir nur aus unserer häuslichen Verfassung zu erklären. Eine abgesonderte Kinderstube hatte es bei uns nicht gegeben, wir waren zwischen den Füßen der Großen und unter ihren Gesprächen herangewachsen, ohne mit Bewusstsein aufzumerken. Später schien es mir dann, als käme ich überall in bekannte Gegenden, die ich mir jetzt nur etwas genauer anzuschauen brauchte. Ebenso stand mir die elterliche Bücherei unbeschränkt zu Gebote. Niemand fragte, was ich las. Die Eltern dachten jedenfalls, da man uns so frühe das Reich des Höchsten und Schönsten im Schrifttum aller Zeiten erschlossen hatte, da Goethe und Schiller,