Sie stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Glaubst du, Cousine Jane wäre von zu Hause fortgelaufen, wenn sie geahnt hätte, wie ihr Leben aussehen würde an der Seite eines ungeliebten Mannes? O mein Gott, ich wünschte, ich könnte sie fragen.«
»Lebt sie nicht in Syrien?« fragte Charles.
»Sie lebt mit ihrem arabischen Scheich in der Wüste, und sie besitzen ein Haus in Damaskus«, sagte Vita. »Das weiß ich von Bevil Ashford, einem Verwandten, der vor einem Monat hier war.«
»Ist er nicht im diplomatischen Dienst?«
»Ja. Bevil gilt als ,vielversprechend‘. Er hat sich in Rußland und Norwegen einen Namen gemacht und war zuletzt in Syrien. Dort hat er auch Cousine Jane getroffen.«
»Was erzählte er über sie?«
»Er sagte, sie sei sehr schön trotz ihrer zweiundsechzig Jahre.«
»Bei dem Leben, das sie geführt hat, ist das erstaunlich.«
»Vielleicht hält die Liebe sie jung.«
»In dem Alter kann sie doch nicht mehr verliebt sein!« rief Charles ungläubig.
»Das zeigt, wie wenig du darüber weißt!« entgegnete Vita unwillig. »Bevil sagt, sie sei sehr verliebt in ihren Scheich, wie sie wahrscheinlich auch ihre beiden anderen Gatten, ihre königlichen Liebhaber und zahllose andere Männer geliebt hat.«
»So willst du doch nicht etwa werden?« fragte Charles schockiert.
»Cousine Jane wurde mir stets als schlechtes Vorbild hingestellt«, erinnerte sich Vita. »Die Familie spricht nur hinter vorgehaltener Hand über sie. Alle Neuigkeiten über Jane werden von meinen Tanten, Großtanten, Vettern und Cousinen genüßlich durchgehechelt, jeder Skandal, in den sie verwickelt war, wird begierig breitgetreten.«
Vita fügte lachend hinzu: »Was die ganze Bande vor Wut beinahe platzen läßt, ist die Tatsache, daß sie immer noch schön und glücklich ist.«
Sie maß Charles mit forschendem Blick.
»Du mißbilligst es auch. Ist das nicht bemerkenswert? Keiner kann es ertragen, wenn eine Frau, die gesündigt hat, nicht in Sack und Asche umherläuft und sich die Augen ausweint, damit man sich in Großmut üben und ihr vergeben kann. Doch Cousine Jane empfindet keine Reue und will keine Vergebung!«
»Woher willst du das wissen?«
»Sie hat mächtiges Aufsehen erregt, als sie vor dreizehn Jahren nach England zurückkehrte und die Familie sich aus purer Neugier, nicht aus Zuneigung, um sie scharte.«
»Warum kehrte sie zurück?«
»Ich vermute, sie hatte Heimweh, stellte hier jedoch fest, daß ihr Zuhause da ist, woran ihr Herz hängt«, erwiderte Vita. »Und das ist Syrien für sie.«
»Das mutet mich alles ein wenig sonderbar an.«
»Ich war damals zu jung, um an dem Familientreffen teilnehmen zu dürfen«, fuhr Vita versonnen fort. »Sie war fünfzig, doch alle, die sie gesehen haben, mußten zugeben, daß sie noch immer schön war, und nach ihrer Abreise sprachen sie über nichts anderes mehr.«
Sie lächelte.
»Früher hieß es immer: ,Erwähnt sie nicht vor dem Kind.‘ Doch als ich älter wurde, sammelte ich alles, was ich über Cousine Jane in Erfahrung bringen konnte, und setzte es wie Teile eines Geduldsspiels zu einem vollständigen Bild zusammen. Mit Bevils Hilfe erfuhr ich dann das Neueste über sie.«
»Ich verstehe nicht, weshalb dich das so interessiert«, sagte Charles steif. »Deine Familie hat recht, Vita. Keine anständige Frau würde einen Araber heiraten und mit ihm in der Wüste leben.«
»Ich finde das alles schrecklich aufregend.«
»Wenn du dort wärst und es mit eigenen Augen sehen könntest, würdest du dieses Leben zweifellos primitiv, schäbig und zuweilen sogar gefährlich finden.«
»Es ist gefährlich!« bestätigte Vita. »Das weiß ich von Bevil. Aber es muß aufregend sein, über einen Beduinenstamm zu herrschen und nichts mehr mit den Intrigen und gesellschaftlichen Ränkespielen zu tun zu haben, die das Leben in England beherrschen.«
Sie hielt kurz inne.
»Und nicht irgendjemanden heiraten zu müssen, den man verabscheut - jemanden wie Lord Bantham!«
»Du mußt ihn nicht heiraten«, sagte Charles. »Niemand, nicht einmal dein gesetzlicher Vormund, kann dich zwingen, Ja zu sagen, wenn du vor dem Altar stehst.«
Vitas Augen blitzten.
»Wäre das nicht amüsant, auf die Frage des Pfarrers: ,Willst du diesen Mann zu deinem rechtmäßigen Gatten nehmen?‘, nein zu sagen?«
»Einen solchen Skandal würdest du doch nicht hervorrufen wollen!« rief Charles entsetzt.
»Warum denn nicht?« fragte Vita. »Ich kann tun, was ich will.«
»Aber das würdest du doch nicht wollen«, sagte er in schmeichelndem Ton. »Du bist so schön, Vita, so vollkommen, daß niemals jemand etwas Häßliches über dich sagen könnte.«
Er hielt inne und fuhr dann mit leiser Stimme fort: »Du weißt, daß mir nichts so sehr am Herzen liegt wie dein Glück. Ich würde mein Leben dafür geben, wenn ich dir helfen könnte, aber leider bin ich machtlos.«
Vita lächelte ihn wieder strahlend an.
»Du bist sehr lieb, Charles, und du weißt, wie gern ich dich habe und wie sehr ich dir vertraue. Du mußt mir helfen . . . ich . . . ich kann das einfach nicht tun.«
»Wie kann ich dir denn helfen?« fragte Charles verzweifelt.
Vita blieb ihm die Antwort schuldig, und er fuhr nach einer Weile fort: »Ich kann nicht glauben, daß du einverstanden wärst, mit mir fortzugehen. Wenn du dich jedoch für diesen Schritt entscheiden würdest, brauche ich dir nicht zu sagen, was das für mich bedeuten würde.«
»Lieber, lieber Charles!« sagte Vita. »Ich glaube nicht, daß
das eine Lösung wäre. Sie würden uns irgendwann auf stöbern, und die Folge wäre, daß Papa deinen Vater fristlos entlassen würde und wir uns nie mehr sehen könnten.«
»Aber wie könnte ich dir denn sonst helfen?« fragte Charles verzweifelt.
»Es tut mir gut, mit dir darüber zu reden und zu wissen, daß du auf meiner Seite bist. Alle anderen werden sagen: ,Dein Vater weiß am besten, was gut für dich ist.‘ ,Du mußt tun, was dein Vater will.‘ ‚Wie soll ein Mädchen von achtzehn wissen, was es will?‘«
»Aber du weißt es doch«, sagte Charles.
»Natürlich weiß ich es«, erwiderte Vita, »und ich bin fest entschlossen, Lord Bantham auf keinen Fall zu heiraten, und wenn er der letzte Mann auf der Welt wäre!«
Sie unterbrach sich und sagte dann: »Hast du dir mal seine Hände angesehen, Charles? Er hat kurze, breite Finger. Ich ... ich könnte es nicht ertragen, von ihnen berührt zu werden.«
»Vita, sag bitte nicht so was!« flehte Charles sie schmerzlich bewegt an und gab seinem Pferd unwillkürlich die Sporen, daß es einen Satz nach vorn machte.
Es dauerte einige Sekunden, bis Vita ihn eingeholt hatte.
»Habe ich dich unglücklich gemacht, Charles?« fragte sie bekümmert.
»Du machst mich immer unglücklich«, erwiderte er. »Es ist, als blicke man zu einem wunderschönen Stern am Himmel auf, der unerreichbar ist, aber ohne den das Leben leer und sinnlos wäre.«
»O Charles, wie romantisch!« rief Vita.
Sie sah ihn mit ihren schönen großen Augen an und sagte dann: »Wenn ich dich lieben würde, dann würde ich