Er sprach immer noch von verlorenen Gemälden, als Lord Verlond und Sandford aus dem Arbeitszimmer zurückkamen.
»Lassen Sie doch Ihre Tochter auch kommen«, sagte Lord Verlond.
Sandford zögerte. »Ich bin leider heute abend nicht mehr frei – und ich sehe es nicht gern, daß sie allein geht.«
Oberst Black sah plötzlich eine Chance für sich.
»Wenn es sich um die heutige Abendgesellschaft handelt«, meinte er scheinbar gleichgültig, »so werde ich mich glücklich schätzen, wenn ich Ihnen mit meinem Wagen zur Verfügung stehen darf.«
Sandford konnte sich noch nicht entschließen. May sollte selbst entscheiden.
»Ich denke, die Abwechslung wird mir guttun, Vater.«
Sie war zwar nicht sonderlich erfreut über die Aussicht, sich von Oberst Black begleiten lassen zu müssen, aber die Fahrt war ja zum Glück nur kurz.
»Es wird mir eine große Ehre sein, bei der jungen Dame Vaterstelle zu vertreten«, scherzte Black.
Er fing einen eigentümlichen Blick Lord Verlonds auf, der ihn scharf beobachtete, und plötzlich überkam ihn eine unerklärliche Furcht.
»Ausgezeichnet«, murmelte der Lord, der den Blick nicht von ihm wandte. »Es ist ja nicht weit, und ich glaube, daß Sie die Fahrt gut überstehen werden.«
May lächelte, aber der harte Ausdruck im Gesicht des alten Mannes verschwand nicht.
»Da Sie krank sind, meine junge Dame«, fuhr er fort, obgleich May lachend protestierte, »werde ich Sir James Bower und Sir Thomas Bigland bitten, auch bei mir zu speisen. Sie kennen doch diese beiden hervorragenden Ärzte, Oberst? Ihr Freund Doktor Essley kennt sie sicher. Sie sind beide Kapazitäten auf dem Gebiet der pflanzlichen Gifte.«
Schweißtropfen traten auf Blacks Stirn, aber sein Gesicht blieb beherrscht. Angst und Wut mischten sich in seinen Augen, aber er begegnete dem Blick des Lords herausfordernd und trotzig, ja er lächelte sogar – ein langsames, gequältes Lächeln.
»Dann wäre die Sache also beschlossen«, sagte er fast fröhlich. Lord Verlond verabschiedete sich und lachte auf dem ganzen Weg zur Stadt in sich hinein.
Der Lord war die Pünktlichkeit selbst. Man sagte in der Gesellschaft, daß die Sturheit dieses Mannes sich in seinem Gesicht spiegele und daß man auch die Geschichte seines Lebens in seinen Zügen wiederfinden könne. Im übrigen hatte seine scharfe Zunge ihm auch bei seinen Freunden Respekt verschafft. Allerdings war es nicht immer wirkliche Achtung. Manchmal war es eher Furcht.
›Freunde‹ war im Grunde auch nicht die richtige Bezeichnung für die Bekannten des Lords, denn außer Sir Isaac Tramber besaß er offenbar keinen Freund.
›Es gibt Leute, mit denen ich ab und zu speise‹ hatte er einmal zynisch gesagt, als die Frage der Freundschaft in seiner Gegenwart aufgeworfen wurde.
Am Abend wartete er in der großen Bibliothek seines Hauses am Carnarvon Place. Er gehörte zu den Menschen, die jeden Tag ihres Lebens nach einer bestimmten Einteilung verbringen.
Er sah auf seine Uhr – in zwei Minuten würde er auf dem Weg zum Empfangssalon sein, um seine Gäste zu begrüßen.
Eine merkwürdige Einladung, dachte Sir Isaac Tramber, als er Horace Gresham erblickte. Da er sich für einen Freund des Lords hielt, wagte er es sogar, zu dem Hausherrn eine diesbezügliche Bemerkung zu machen.
»Wenn ich Ihren Rat für meine Einladungen wünsche, Ikey«, erwiderte Verlond bissig, »werde ich Ihnen vorher ein Telegramm mit Rückantwort senden.«
»Ich dachte, Sie könnten ihn nicht ausstehen«, sagte der junge Baronet vorwurfsvoll.
»Selbstverständlich nicht! Ich hasse ihn sogar. Ich hasse alle Menschen. Ich würde Sie auch hassen, wenn Sie nicht so ein unbedeutender armer Teufel wären. – Haben Sie jetzt Ihren Frieden mit Mary gemacht?«
»Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen«, entgegnete Sir Isaac beleidigt. »Ich habe versucht, liebenswürdig zu ihr zu sein, doch schien das nur den Erfolg zu haben, daß ich mich in ihren Augen lächerlich machte.«
»Aha!« Der Lord lachte. »Sie hat Sie eben durchschaut.«
Sir Isaac sah ihn böse an. »Sie wissen doch, daß ich die feste Absicht habe, Mary zu heiraten.«
»Es ist mir bekannt, daß Sie gern Geld erwerben möchten, ohne dafür zu arbeiten. Sie haben mir das früher schon zweimal erzählt – ich vergesse das nicht. Über solche Dinge pflege ich nachts nachzudenken.«
»Ich wünschte, Sie würden mich nicht immer zum besten haben«, murrte Sir Isaac. »Warten Sie noch auf andere Gäste?«
»Nein«, antwortete der Lord hämisch. »Ich sitze auf dem Gipfel des Montblanc und esse Reispudding.«
Tramber schwieg.
»Ich habe auch einen alten Freund von Ihnen eingeladen«, sagte Verlond plötzlich, »aber es sieht fast so aus, als würde er nicht kommen.«
Sir Isaac runzelte die Stirn.
»Einen alten Freund von mir?«
Lord Verlond nickte.
»Ihren militärischen Freund, den Oberst. Er muß allerdings Oberst einer Armee sein, die nirgendwo bekannt ist.«
Sir Isaac machte ein betroffenes Gesicht.
»Doch nicht etwa Black?«
Der Lord nickte mehrmals, und eine heimliche Freude leuchtete in seinen Augen auf.
»Sie haben ganz recht geraten. Es ist Black.«
Verlond erwähnte jedoch nichts von Miss Sandford. Er sah auf die Uhr und verzog das Gesicht.
»Bleiben Sie hier«, befahl er. »Ich werde telefonieren.«
»Kann ich nicht –«
»Nein, Sie können nicht!« fuhr ihn der Lord an.
Es dauerte einige Zeit, bis er zurückkam. Ein sonderbares Lächeln lag auf seinen Zügen.
»Ihr Freund kommt nicht«, sagte er zu Sir Isaac, gab aber keine Erklärung dafür, warum der Oberst nicht erschien und warum er selbst so vergnügt war.
Bei Tisch saß Horace Gresham neben der Dame seines Herzens. Sie war äußerst liebenswürdig und in gehobener Stimmung, und er war so selig, daß er die ganze Welt und vor allem die Gäste vergaß, die sich um Lord Verlonds Tafel versammelt hatten. Aber sein Gastgeber gönnte ihm offenbar dieses Glück nicht.
»Ich habe heute einen Ihrer Freunde getroffen«, sagte er plötzlich zu Horace.
»Ach, wie interessant«, erwiderte Gresham höflich.
»Mr. Sandford, diesen unheimlich erfolgreichen Mann aus Newcastle.«
Horace nickte.
»Er ist doch auch ein Freund von Ihnen?« wandte sich der Lord an Sir Isaac. »Ich hatte seine Tochter für heute abend eingeladen. Ihr Vater konnte leider nicht annehmen – aber sie ist nun auch nicht gekommen.«
Er ließ seine Blicke über die Tafelrunde schweifen, als ob er Miss Sandford doch noch zu entdecken hoffte.
»In gewisser Weise kann ich wohl sagen, daß Mr. Sandford mein Freund ist«, erklärte Tramber vorsichtig, da er antworten mußte, ohne zu wissen, was der Lord von den abwesenden Gästen hielt. »Wenigstens ist er der Freund eines meiner Freunde.«
»Damit meinen Sie wohl Black, den Börsenschwindler? Sind Sie auch in diese Sachen verwickelt?«
»Ich