Langsam ging er in Richtung der City. Die Straßen waren um diese Zeit von Händlern, Milchautos und Straßenkehrern belebt; einige kleine Läden hatten bereits die Jalousien hochgezogen. In der Regent Street geriet er in den dichten Strom der ins Geschäft eilenden Angestellten.
Verärgert dachte Helder darüber nach, was für eine Nacht Comstock Bell wohl zugebracht hatte und wo sich jetzt gerade Verity aufhalten würde. Höchstwahrscheinlich saß sie in einem Vorortzug in einem Abteil dritter Klasse und fuhr in die Stadt, um sich mit einem der reichsten Männer Londons zu verheiraten.
Er kaufte eine Morgenzeitung, die für gewöhnlich alle sensationellen Neuigkeiten brachte, und überflog sie. Von einer Verhaftung Willetts’ stand nichts darin.
Comstock Bell wartete also, bis er verheiratet und im Ausland war, bevor er Willetts endgültig an den Kragen wollte. Helder vermutete das wenigstens. Und welchen Einfluß mochte wohl dieses Mädchen auf ihn haben? Was für ein Geheimnis steckte hinter dieser plötzlichen Heirat? Bell hatte Verity doch erst in seinem Büro kennengelernt – und war doch sicher nicht der Mann, der wegen eines hübschen Gesichts gleich die Fassung verlor. Diese Heirat mußte irgendeinen andern Grund haben – aber welchen? Mit sorgenvollem Gesicht drängte sich Helder durch das Menschengewühl der Regent Street.
Um acht Uhr war er im Green Park. Noch immer dachte er über diese merkwürdige Heirat nach und versuchte, sich eine Erklärung dafür zurechtzuzimmern. Für gewöhnlich war Helder sehr gut informiert. Ohne große Schwierigkeiten hatte er zum Beispiel herausgebracht, daß der Millionär, den er schon lange beobachten ließ, zu heiraten beabsichtigte. Auch daß die kirchliche Zeremonie gleich im Anschluß an die standesamtliche Trauung in der Marylebone Parish Church um neun Uhr vormittags stattfinden sollte, wußte er. Comstock Bell und Verity wollten dann mit Gold im ›Great Central Hotel‹ frühstücken und um elf Uhr London in Richtung Frankreich verlassen.
Verity Maple war Helder jetzt ziemlich gleichgültig geworden. Er war weder eifersüchtig noch aufgebracht darüber, daß sie ihn verschmäht hatte und Bell nach so kurzer Bekanntschaft heiraten wollte. Bells Erfolg erklärte er sich einfach damit, daß Bell eben, ein viel reicherer Mann als er selbst war. Schließlich hatte er auch nie die Absicht gehabt, Verity zu heiraten; er wollte Junggeselle bleiben.
Helder erwartete, daß er Gold begegnen würde. Er wußte, daß der Beamte ganz bestimmte Gewohnheiten hatte und morgens meistens einen kleinen Spaziergang zu einem Teich im Green Park machte.
Er hatte recht mit seiner Vermutung; als die Uhren in der Stadt Viertel nach acht schlugen, kam ihm Gold auf seinem Spaziergang rund um den Teich entgegen.
Wie immer schien sich Gold über nichts zu wundern und war nicht im geringsten erstaunt, Cornelius Helder vor sich zu sehen. Sie blieben beide stehen und unterhielten sich miteinander. Gold holte während des Gesprächs aus seiner Tasche eine Handvoll Brotkrumen, die er teils den Spatzen, teils den Enten und Schwänen im Teiche hinstreute.
»Vermutlich spielen Sie heute den Brautführer?« fragte Helder nach einiger Zeit und sah Gold lächelnd an.
»Ja so etwas Ähnliches«, entgegnete Gold, ohne sich in seiner Beschäftigung stören zu lassen.
»Was hat denn eigentlich diese ganze Sache zu bedeuten?«
»Was für eine Sache? Etwa die Trauung?«
»Natürlich, das kam doch schließlich recht unerwartet.«
»Oh, eine Hochzeit kommt meistens für irgend jemand unerwartet.«
»Glauben Sie, daß sie glücklich miteinander werden?«
»Um Himmels willen, wie soll ich das wissen«, entgegnete Gold. »Nicht einmal bei Adam und Eva war das völlig sicher, soviel ich weiß – aber das liegt ja auch schon ein wenig vor meiner Zeit. Übrigens entwickelt sich das zum ehelichen Glück notwendige Anpassungsvermögen sowieso erst bei Leuten, die schon lange miteinander verheiratet sind.«
Helder amüsierte sich.
»So kann nur ein hartgesottener Junggeselle sprechen! – Hatten Sie übrigens Gelegenheit, festzustellen, daß alles, was ich Ihnen über Willetts sagte, den Tatsachen entspricht?«
Gold nickte.
»Ja heute abend wird er verhaftet.«
»Aha, also erst dann, wenn Comstock Bell England verlassen hat und in Sicherheit ist«, meinte Helder ironisch. »Ich bin nicht gerade sehr stolz darauf, daß er mein Landsmann ist.«
Gold sah ihn von der Seite an.
»Ich habe auch niemals gehört, daß er besondere Freude darüber geäußert hätte, daß Sie sein Landsmann sind.«
Er schaute auf seine Uhr.
»Ich muß jetzt gehen. Übrigens sehen Sie gar nicht gut aus.«
»Keine Sorge, ich fühle mich wohl – nur leide ich in letzter Zeit etwas an Schlaflosigkeit.«
»Dann sollten Sie Ihre Nächte dazu benützen, nützliche Bücher zu lesen. Ich möchte Ihnen den Rat geben, mit einem kleinen Buch, das ich neulich wieder einmal in der Hand hatte, den Anfang zu machen.«
»Und was war das für ein Buch?«
»Die Polizeivorschriften Londons. Es ist ein Buch, das Anweisungen für Polizeibeamte enthält – und deshalb besonders eingehend in Verbrecherkreisen studiert wird.«
Gold lachte vergnügt, und Helder machte ein dummes Gesicht. Er wußte nicht, ob er grinsen oder ärgerlich sein sollte.
Comstock Bell und Verity kamen beide fast zur gleichen Zeit in dem Hotel an. Er begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. Sie war sehr ernst und sah so hübsch aus, daß es ihm fast den Atem verschlug. Er mußte sich selbst darüber wundern, daß er von ihrer Schönheit zum erstenmal in diesem Augenblick, als er sie in der Empfangshalle des ›Great Central Hotel‹ sah, tiefer berührt wurde.
Comstock Bell war in Verity nicht verliebt – und trotzdem heiratete er sie. Jetzt mußte er sich eingestehen, daß es ihm Freude machte, bald eine so hübsche Frau zu haben. Bewundernd sah er sie an. Das einfache weiße Kleid und der breitrandige weiße Hut mit schwarzem Band standen ihr ausgezeichnet.
»Wir haben noch ungefähr fünf Minuten Zeit für uns, bevor die anderen kommen«, sagte er und führte sie zu einem Sessel.
»Werden Sie diesen Schritt auch nicht bereuen?«
»Nein ich bereue nichts«, entgegnete sie mit fester Stimme. »Der Entschluß, den ich gestern gefaßt habe, ist unwiderruflich.«
»Ich …«, begann er zögernd.
»Bitte seien Sie ruhig! Ich weiß, daß Sie mir jetzt irgend etwas sagen wollen, das mich trösten soll – und das doch nicht der Wahrheit entsprechen würde. Ich heirate Sie, weil ich weiß, daß ich Ihnen damit helfen kann. Es ist mir auch völlig klar, daß Sie mich nicht lieben – auch ich liebe Sie nicht. Wenn wir trotzdem diesen Entschluß gefaßt haben, dann nur deshalb, weil die Gründe, die Sie dazu zwingen, sehr schwerwiegend sind. Gebe Gott, daß alles gut ausgeht!«
»Ja wir wollen es hoffen«, entgegnete er ernst. »Dort kommt Gold.«
Der Beamte betrat in diesem Augenblick die Halle – ein ungewöhnlicher Anblick im Zylinder und feierlichem schwarzem Mantel. Er legte ab, begrüßte das Brautpaar und ging mit ihnen in den Speisesaal, wo an einem Ecktisch bereits ein Imbiß für sie bereitstand.
Verity rührte kaum etwas an, und auch Comstock Bell aß nicht viel. Aber Gold, der weiter keine Sorgen hatte – schließlich war es ja nicht er, der heiraten sollte –, langte tapfer zu. Abgesehen von seinem immer erstaunlich guten Appetit war er an diesem Tag schon seit in der Frühe auf den Beinen – was allerdings keiner der Anwesenden wußte.
»Wohin werden Sie Ihre Hochzeitsreise machen?« erkundigte er sich.
»Wir