»Wenn ich nur wüßte, ob mein Onkel noch am Leben ist«, flüsterte sie.
Er nickte.
»Ich kann mir denken, wie Sie das bedrücken muß«, meinte er ernst. »Ich habe vorher den Bericht in der Zeitung gelesen. Demnach besteht doch immerhin Hoffnung, daß die Leute, die ihn entführt haben, ihm nicht direkt ans Leben wollen …«
Sie schaute zu ihm auf. Er hatte so warmherzig und freundlich gesprochen, daß sie sich immer mehr zu ihm hingezogen fühlte. Was war er wohl für ein Mensch? Er hatte soviel Geld und macht doch einen so niedergeschlagenen Eindruck.
Comstock war im Zimmer auf und ab gegangen. Jetzt blieb er ihr gegenüber stehen und sah ihr fest in die Augen.
»Miss Maple, haben Sie noch irgendwelche andere Verwandte?«
»Nein.«
»Oder gute Bekannte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nur einige ganz flüchtige Bekanntschaften. Früher war ich in einem Pensionat in Belgien, und meinen Onkel lernte ich ja erst nach dem Tode meines Vaters vor einigen Jahren kennen.« Er nickte, sah zu Boden und gab sich dann einen Ruck.
»Ich möchte Ihnen etwas sagen, Miss Maple, das Sie wahrscheinlich sehr verwirren wird. Vorausschicken will ich, daß ich mir meiner Verantwortung durchaus bewußt bin und für Sie die größte Hochachtung und Bewunderung hege. Bitte glauben Sie mir also.«
»Ich weiß nicht, was Sie mir sagen wollen – aber ich kann Ihnen versichern, daß ich Ihnen Vertrauen schenke«, entgegnete Sie ruhig.
»Schönen Dank, Miss Maple. Es handelt sich um folgendes – ich möchte Sie heiraten.« Sie sah ihn fassungslos an und wich unwillkürlich einige Schritte zurück.
»Bitte, regen Sie sich nicht auf«, sagte er lächelnd. »Und vermuten Sie vor allem nichts Schlimmes. Hier ist die Klingel, und mein ganzes Personal ist in Rufweite.«
»Aber – Mr. Bell …!« rief sie bestürzt.
Er hob beschwichtigend die Hand.
»Verstehen Sie mich richtig, Miss Maple. Ich möchte, daß Sie mir einen großen Gefallen tun – mir ein Opfer bringen: Sie würden Ihre volle Freiheit behalten, wenn Sie eine Ehe mit mir eingehen, ganz abgesehen von den materiellen Vorteilen, die dieser Schritt zur Folge hätte.«
»Aber wir kennen uns doch erst seit kurzem – lange nicht genug, um einen solch schwerwiegenden Entschluß zu fassen erwiderte sie leise und schaute ihn ein wenig vorwurfsvoll an. »Eine solche Ehe wäre ganz gegen meine Anschauungen. Ich kann nur einen Mann heiraten, den ich liebe.«
Sie erhob sich.
»Bitte bleiben Sie noch und hören Sie mir zu.«
Sie setzte sich wieder. Seine Stimme klang eindringlich und fast verzweifelt.
Unbeweglich saß sie da, während er redete. Nur einmal stand sie auf und ging erregt hin und her. Er sprach voll Hoffnung, aber auch voll Bitterkeit. Es wurde dunkel, und sie konnte nur noch undeutlich seine Umrisse vor dem Fenster sehen. Schließlich brach er ab – und da hatte sie endlich begriffen …
Als er sie später zur Haustür brachte und mit ihr auf die Straße trat, war es völlig dunkel geworden. Er begleitete sie zu einem Taxi und half ihr beim Einsteigen. »Bis morgen also?«
»Ja, bis morgen«, wiederholte sie und reichte ihm die Hand.
Gold betrat den Terriers-Klub und erhielt vom Portier einen mit der Maschine geschriebenen Brief ausgehändigt, der von Comstock Bell stammte.
Er las den Brief aufmerksam durch, blieb auf dem Weg zum Schreibzimmer stehen und nahm ihn noch einmal vor. Dann steckte er ihn in die Tasche und ging sehr erstaunt in den Speisesaal, um zu Abend zu essen.
Hastig aß er, denn er war augenblicklich sehr beschäftigt. Er hatte auch nicht die geringste Lust, sich mit Helder, den er nach dem Essen im Korridor traf, zu unterhalten.
»Schön, daß ich Ihnen begegne, Mr. Gold. Ich möchte Sie nämlich dringend sprechen.«
Gold seufzte tief.
»Was wollen Sie denn von mir?«
»Ich glaube, ich kann Ihnen etwas sehr Wichtiges mitteilen – Willetts wird morgen verhaftet!«
Gold schaute ihn scharf an.
»Wer hat Ihnen denn das gesagt – und was wissen Sie überhaupt von Willetts?«
»Es tut nichts zur Sache, von wem ich es erfahren habe. Von Willetts aber weiß ich, daß er der Anführer der Bande ist, die falsches Geld in Umlauf bringt. Es sind dieselben Verbrecher, die Ihren Freund Maple entführt haben.«
»Was Sie nicht sagen!«
Wentworth Gold schaute Helder mit einem merkwürdigen Blick an.
»Die Sache ist ganz klar. Willetts wird bereits seit längerer Zeit von der Polizei wegen Falschmünzerei gesucht. Er hat ein Büro in der Stadt, das aber nur dazu dient, seine wirkliche Beschäftigung zu vertuschen.«
»Sie scheinen ja mächtig genau Bescheid zu wissen. Kennen Sie ihn denn?«
»Ich habe ihn ein paarmal gesehen und kann mich noch recht gut an ihn erinnern. Er war seinerzeit mit mir in Paris.«
»Haben Sie dort auch Comstock Bell kennengelernt?«
»Ja. Bell und Willetts gingen beide auf die Kunstakademie und haben im gleichen Atelier gearbeitet. Willetts war auf den ersten Blick ein ruhiger, recht unscheinbarer junger Mann. In Wirklichkeit hat er aber ein ziemlich unsolides Leben geführt und sich allerhand Ausschreitungen zuschulden kommen lassen. Nach jener, letzten skandalösen Geschichte, über die Sie ja Bescheid wissen, verschwand er aus Paris.«
»Und Sie behaupten, daß er der Chef einer Fälscherbande ist?«
»Ich bin mir völlig sicher, daß er mit einer solchen Bande zumindest zusammenarbeitet. Und ebenso gewiß ist es für mich, daß Bell hinter ihm steht.«
»Aber das ist doch ganz absurd! Bell besitzt ein großes Vermögen, er ist Millionär! Vielleicht hat. er in seiner Jugend einmal über die Stränge geschlagen – schließlich ist das aber noch lange kein Grund, daß er jetzt mit einem derartigen Verbrechen in Zusammenhang gebracht werden kann. Woher wissen Sie denn überhaupt, daß Willetts verhaftet werden soll?«
Helder schüttelte lächelnd den Kopf.
»Das müssen Sie selbst herausbringen«, sagte er. »Auf jeden Fall bin ich meiner Sache sicher.«
Ein Mann, der durch seine krumme Haltung und den etwas linkischen Gang auffiel, überquerte spät abends langsam den Pinsbury Square.
Es waren nur wenige Passanten auf der Straße. Ein Polizist an der Ecke folgte dem Mann mit den Blicken, allerdings weniger aus Pflichtbewußtsein als aus Langeweile.
Der Mann sah aber auch wirklich recht auffallend aus. Er trug einen langen, schwarzen Mantel und einen breiten, weichen Filzhut. Seine dunklen Haare, die sich hinten zu Locken rollten, hingen ihm bis auf den Mantelkragen. Allem Anschein nach war er ein Musiker oder sonst irgendein verkommenes Künstlergenie.
Langsam ging er auf der Broad Street entlang und bog dann in eine dunkle Seitenstraße, die zum Themseufer führte.
Wenn sich jemand die Mühe gemacht hätte, ihm zu folgen, so wären ihm wohl die vielen Umwege aufgefallen, die der Mann machte.
Als eine Kirchenuhr in der City elf schlug, schritt er gerade über den großen freien Platz hinter der Börse. Ein Mann, der langsam auf dem Gehsteig in der Thread Needle Street auf und ab ging, kam ihm halbwegs entgegen.
»Nun, Clark«, redete ihn der Mann in dem schwarzen Mantel an, »haben Sie einen Brief?«
Er