Und er drehte und schnippelte weiter.
Pfeifenköpfe! Anna stieß einen empörten Laut aus. Sie sagte jetzt doch sehr ärgerlich: »Pfeifenköpfe! Aber Otto! Besinn dich! Die Welt stürzt ein, und du denkst an Pfeifenköpfe! Wenn ich bloß so was höre!«
Er schien weder auf ihren Ärger noch auf ihre Worte groß zu achten. Er sagte: »Das wird natürlich kein Pfeifenkopf. Ich will mal sehen, ob ich unser Ottochen ein bisschen zurechtschnitzen kann, wie er ausgesehen hat!«
Sofort schlug ihre Stimmung um. Also an Ottochen dachte er, und wenn er an Ottochen dachte und seinen Kopf schnitzen wollte, so dachte er auch an sie und wollte ihr eine Freude damit machen. Sie stand von ihrem Stuhle auf und sagte, hastig die Kartoffelschüssel absetzend: »Warte, Otto, ich hole dir die Bilder, damit du auch weißt, wie Ottochen wirklich ausgesehen hat.«
Er schüttelte ablehnend den Kopf. »Ich will keine Bilder sehen«, sagte er. »Ich will den Otto schnitzen, wie ich ihn hier in mir drin habe.« Er tippte gegen seine hohe Stirn. Und nach einer Pause setzte er noch hinzu: »Wenn ich’s kann!«
Nun war sie wieder gerührt. Ottochen war also auch in ihm, er hatte ein festes Bild von dem Jungen. Jetzt war sie neugierig, wie dieser Kopf aussehen würde, wenn er erst fertig war. »Sicher bringst du es fertig, Otto!«, sagte sie.
»Na!«, sagte er nur, aber es klang nicht einmal so zweifelnd wie zustimmend.
Damit war die Unterhaltung zwischen den beiden erst einmal beendet. Anna musste in die Küche zurück zu ihrem Mittagessen, und sie ließ ihn da am Tisch, wie er langsam diesen Klotz Lindenholz zwischen seinen Fingern drehte und mit einer stillen, behutsamen Geduld Spänchen auf Spänchen von ihm abnahm.
Sie war dann aber doch sehr überrascht, als sie kurz vor dem Mittagessen zurückkam, um den Tisch zu decken, diesen Tisch schon aufgeräumt und mit seiner Decke geschmückt zu finden. Quangel stand am Fenster und sah in die Jablonskistraße hinunter, wo die spielenden Kinder lärmten.
»Na, Otto?«, fragte sie. »Schon fertig mit der Schnitzerei?«
»Für heute ist Feierabend«, antwortete er, und im selben Augenblick wusste sie, dass diese Unterredung nun doch ganz nahe bevorstand, dass Otto doch etwas vorhatte, dieser unbegreiflich beharrliche Mann, den nichts dazu bringen konnte, etwas übereilt zu tun, der stets auf die richtige Stunde warten konnte.
Das Mittagessen verzehrten sie schweigend. Dann ging sie wieder in die Küche, um dort Ordnung zu schaffen, und sie verließ ihn, in seiner Sofaecke hockend, starr vor sich hin sehend.
Als sie, eine halbe Stunde später, wieder zurückkam, saß er noch immer so da. Aber jetzt wollte sie nicht noch länger warten, bis er sich endlich entschloss; seine Geduld, die eigene Ungeduld machten sie zu unruhig. Womöglich saß er um vier noch so da, und nach dem Abendessen auch noch! Sie konnte nicht mehr länger warten!
»Nun, Otto«, fragte sie. »Was gibt’s? Ist heute kein Nachmittagsschlaf wie alle Sonntage?«
»Heute ist nicht alle Sonntage. Mit ›alle Sonntage‹ ist es endgültig vorbei.« Er stand plötzlich auf und ging aus der Stube.
Aber heute war sie nicht gesonnen, ihn einfach wieder fortlaufen zu lassen, auf einen seiner geheimnisvollen Gänge, von denen sie doch nie etwas erfuhr. Sie lief ihm nach. »Nein, Otto …«, fing sie an.
Er stand an der Etagentür, deren Kette er eben vorgelegt hatte. Er hatte die Hand erhoben, um Stille zu gebieten, und lauschte in das Haus hinaus. Dann nickte er und ging an ihr vorbei wieder in die Stube. Als sie zu ihm kam, hatte er seinen Sofaplatz wieder eingenommen, sie setzte sich zu ihm.
»Wenn’s klingelt, Anna«, sagte er, »machst du nicht eher auf, als bis ich …«
»Wer soll denn klingeln, Otto?«, fragte sie ungeduldig. »Wer soll denn zu uns kommen? Nun sage schon, was du sagen willst!«
»Ich werd’s schon sagen, Anna«, antwortete er mit ungewohnter Milde. »Aber wenn du mich drängelst, machst du es mir nur noch schwerer.«
Sie berührte schnell seine Hand, die Hand dieses Mannes, dem jede Mitteilung dessen, was in seinem Innern vorging, immer wieder schwerfiel. »Ich werde dich schon nicht drängeln, Otto«, sagte sie beruhigend. »Lass dir Zeit!«
Aber gleich darauf begann er zu sprechen, und nun sprach er fast fünf Minuten hintereinander, in langsamen, kurz abgerissenen, sehr überlegten Sätzen, hinter deren jedem er erst einmal fest den schmallippigen Mund schloss, als komme nun bestimmt nichts mehr. Und während er so sprach, hatte er den Blick auf etwas gerichtet, was seitlich hinter Anna in der Stube war.
Anna Quangel aber hielt die Augen während seines Sprechens fest auf sein Gesicht gewendet, und sie war ihm fast dankbar, dass er sie nicht ansah, so schwer wurde es ihr, die Enttäuschung, die sich immer stärker ihrer bemächtigte, zu verbergen. Mein Gott, was hatte sich dieser Mann da ausgedacht! Sie hatte an große Taten gedacht (und sich eigentlich auch vor ihnen gefürchtet), an ein Attentat auf den Führer, zum mindesten aber an einen tätigen Kampf gegen die Bonzen und die Partei.
Und was wollte er tun? Gar nichts, etwas lächerlich Kleines, so etwas, das so ganz in seiner Art lag, etwas Stilles, Abseitiges, das ihm seine Ruhe bewahrte. Karten wollte er schreiben, Postkarten mit Aufrufen gegen den Führer und die Partei, gegen den Krieg, zur Aufklärung seiner Mitmenschen, das war alles. Und diese Karten wollte er nun nicht etwa an bestimmte Menschen senden oder als Plakate an die Wände kleben, nein, er wollte sie nur auf den Treppen sehr begangener Häuser niederlegen, sie dort ihrem Schicksal überlassen, ganz unbestimmt, wer sie aufnahm, ob sie nicht gleich zertreten wurden, zerrissen … Alles in ihr empörte sich gegen diesen gefahrlosen Krieg aus dem Dunkeln. Sie wollte tätig sein, es musste etwas getan werden, von dem man eine Wirkung sah!
Quangel aber, nachdem er zu Ende geredet hatte, schien gar keine Erwiderung von seiner Frau zu erwarten, die da still mit sich kämpfend in ihrer Sofaecke saß. Sollte sie ihm nicht doch lieber etwas sagen?
Er war aufgestanden und wieder zum Lauschen an die Flurtür gegangen. Als er zurückkam, nahm er nur die Decke vom Tisch, faltete sie zusammen und hängte sie sorgfältig über die Stuhllehne. Dann ging er an den alten Mahagonisekretär, suchte das Schlüsselbund aus seiner Tasche hervor und schloss auf.
Während er noch im Schranke kramte, entschloss sich Anna. Zögernd sagte sie: »Ist das nicht ein bisschen wenig, was du da tun willst, Otto?«