Der Medizinalrat und seine rechte Hand sahen einander an und dann mich. Sie lächelten etwas dünn. »Nein, in dieser allerersten Zeit möchten wir Sie besser doch noch nicht ›draußen‹ arbeiten lassen«, sagte der Medizinalrat sanft. »Dazu müssen wir einander erst ein bisschen besser kennenlernen …«
»Ach, Sie denken, ich laufe fort?«, rief ich entrüstet. »Aber, Herr Medizinalrat, wohin sollte ich denn laufen, in dieser Tracht, ohne Geld? Ich käme keine zehn Kilometer weit …«
»Auch zehn Kilometer wären schon zu viel«, unterbrach mich der Arzt. »Nun, Oberpfleger?«
»Ich denke, ich stecke ihn zum Bürstenmachen, da fehlt uns gerade ein Mann. Lexer kann ihn anlernen …«
»Lexer?«, unterbrach ich den Oberpfleger entsetzt. »Ich bitte Sie: bloß nicht Lexer! Wenn mir ein Mensch verhasst ist, so ist es dieses kleine, widerliche, gellende Biest! Alles in mir dreht sich vor Ekel um, wenn ich diese Stimme nur höre … Alles, was Sie wollen, bitte, nur nicht Lexer!«
»Haben Sie auch draußen schon an so heftigen Antipathien gelitten, Sommer?«, fragte der Medizinalrat sanft. »Sie sind kaum vierundzwanzig Stunden in diesem Haus und haben schon einen solchen Hass auf einen ganz harmlosen schwachsinnigen Bengel gefasst.«
Ich war verwirrt, verlegen – schon wieder hatte ich einen Fehler begangen. »Es gibt doch so plötzliche Antipathien, Herr Medizinalrat«, sagte ich. »Man sieht einen Menschen, hört nur seine Stimme, und schon …«
»Ja, ja«, unterbrach er mich und sah plötzlich müde und traurig aus. »Wir reden von alledem noch später. Jetzt gute Nacht, Sommer!«
51
Es war eine Niederlage, eine schmähliche Niederlage, mit nichts war die Größe dieser Niederlage vor mir zu beschönigen. Ich war als ein Lügner entlarvt, ich hatte Abstinenzerscheinungen und litt an krankhaften plötzlichen Antipathien. Ich dachte vielleicht auch an Flucht. In ohnmächtiger Verzweiflung lag ich in meinem Bett, ich hätte weinen können vor Reue und Scham. So viel vorausbedacht und vorausgesorgt und in jede Falle hineingetappt wie der erste dumme, gehirnlose Junge!
Und es ist ja doch alles gar nicht wahr, was sie von mir denken, rief ich verzweifelt bei mir aus. Ich denke wirklich nicht an Flucht, und ich habe wirklich keine Abstinenzerscheinungen gehabt, oder nur an den allerersten zwei oder drei Tagen, und auch da nur ganz gering.
Und wenn ich den Arzt ein wenig über meinen Alkoholverbrauch angeschwindelt habe, so doch nie in der Absicht, ihn zu täuschen. Er kam mit einer vorgefassten schlechten Meinung von mir hierher, einer Meinung, die den Tatsachen nicht entsprach, es war eine Pflicht der Selbsterhaltung von mir, mit jedem Mittel diese vorgefasste Meinung zu zerstreuen!
Aber ich mochte mir was immer erzählen, die Tatsache blieb, dass ich eine schwere Niederlage erlitten hatte, dass ich in den Augen von Arzt und Oberpfleger wie ein kleiner windiger Spitzbube dastand, der sich mit allen Kniffen und Pfiffen von seiner Schuld freischwindeln will.
›Schuld?!‹, dachte ich. ›Was habe ich denn groß für eine Schuld?! Dies bisschen Bedrohung – Mordhorst hat gesagt, für eine Bedrohung kriegt man höchstens ein Vierteljahr! Das ist gar nichts, das kann man überhaupt nicht rechnen! Sie aber machen einen Riesensumms daraus, sie schleppen mich in Gefängnis und Heilanstalt, sie nehmen mir das »Herr« vor meinem Namen Sommer. Kohlwasser geben sie mir als Fraß, und sie veranstalten Verhöre mit mir, als sei ich ein Muttermörder und der letzte der Menschen! Ich bin gewiss, wenn sie mich nur fünf Minuten mit Magda reden ließen, ich hätte sie überzeugt; gemeinsam träten wir vor diesen lächerlichen Staatsanwalt mit der vorgeschobenen Unterlippe und den starrenden Augen, und dieser Kerl müsste sofort das Verfahren gegen mich einstellen!‹
›Aber‹, dachte ich rasch und qualvoll weiter, ›aber es liegt auch an Magda! Wenn sie ein bisschen von der Liebe und Treue hätte, die Ehegatten doch füreinander haben sollen, sie hätte sich längst zum Besuch bei mir vorgemeldet, sie setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um mich aus diesem Totenhaus herauszubekommen! Nichts von alledem! Nicht einmal einen Brief hat sie mir geschrieben. Aber ich weiß, wie es ist: Sie steckt mit den Ärzten unter einer Decke. Die erzählen ihr, ich bin hier gut aufgehoben und habe nichts auszustehen, und das genügt ihr, da macht sie sich keinen einzigen Gedanken mehr über mich. Sie hat ihren Zweck erreicht, walten und schalten kann sie in meinem Eigentum, wie sie will – das ist ihr das Wichtigste!
Aber warte, eines Tages werde ich trotz aller Kniffe und Pfiffe wieder aus diesem Haus herauskommen, und dann sollst du sehen, was ich alles tun werde …‹
Und mit wilder Wut stürzte ich mich in Rachefantasien. Ich verkaufte das Geschäft hinter ihrem Rücken, und wollüstig malte ich mir aus, wie sie eines Morgens auf das Kontor kommen würde, aber auf ihrem – meinem – Platz hinter dem Chefschreibtisch würde der junge Unternehmer von der Konkurrenz sitzen und ihr spöttisch entgegenlächeln: »Nun, Frau Sommer, auch einen kleinen Einkauf in meiner Firma tätigen? Zehn Kilo gelbe Viktoria-Erbsen gefällig? Ein Kilo blauen Mohn für den Sonntagskuchen?« Sie aber würde vor Scham und Zorn und Verzweiflung dunkelrot werden, und ich sah das alles, im großen Registraturschrank versteckt, mit frohlockendem Herzen an.
Oder ich malte mir aus, wie ich nach meiner Entlassung aus diesem Totenhaus in die weite Welt hinauswandern würde, wie ich mich lange Jahre als Bettler und Stromer in fremden Landen herumtreiben und erst spät, für jeden unkenntlich, in meine Vaterstadt heimkehren würde. Da würde ich an der Tür meines eigenen Hauses um ein Stückchen Brot betteln, hart aber würde sie es mir verweigern. In der Nacht dann würde ich mich am Pflaumenbaum vor ihrem Fenster erhängen, einen Zettel in der Tasche, wer ich sei und dass ich ihr alles mir angetane Unrecht verziehe …
Tränen der Rührung über mein unseliges Schicksal traten mir jetzt in die Augen, und diese Fantasien, so kindisch sie auch waren, beruhigten mein Herz doch ein wenig.
Längst schliefen meine Gefährten, die noch bis zum Dunkelwerden miteinander geplaudert hatten, das heißt nur zwei von ihnen, der dritte, ein älterer Mann mit einem schönen traurigen Gesicht und einer wundervoll gewölbten hohen Stirn, hatte sofort die Decke über den Kopf gezogen. Ich beglückwünschte mich zu den ruhigen, anständigen Schlafgenossen; ich merkte es in dieser Nacht: Sie hatten auch einander dazu erzogen, den Kübel nur zum kleinen Geschäft zu benutzen und sich das andere, lästige für den Tag aufzusparen.