Alle guten Geister…. Anna Schieber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Schieber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066112202
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fanden sie miteinander eine große, durchsichtig schimmernde Traube heraus und nahmen sie sachte herunter und sahen sich ein bißchen um, ob niemand zusehe, obgleich sie’s nachher sagen wollten. Dann gingen sie miteinander und mit ihrem Raub, (denn das war es doch, da hatten die Sperlinge nicht unrecht gehabt,) in den Obstgarten.

      Ganz hinten in der Ecke, dort, wo der Garten an den Stadtgraben anstößt, unter dem Süßapfelbaum, ließen sie sich nieder.

      Der Baum hing zum Brechen voll. Hie und da raschelte es in den Zweigen; dann löste sich eine Frucht und fiel ins Gras.

      Die Kinder sahen nicht viel danach hin. Aber nicht aus demselben Grund, wie die Spatzen. Sie hatten nur heute Wichtigeres zu bedenken. Lore war gekommen, um Abschied zu nehmen. Sie teilten ihre Traube, Beere um Beere und sagten nicht viel dazu. Den leeren Kamm warfen sie über den Lattenzaun in den Stadtgraben und standen und sahen ihm nach, als ob es ein Stück ihres vergangenen Lebens sei.

      Vorhin waren sie ein letztes Mal miteinander auf dem Turm gewesen. Ein letztes Mal; das war sonderbar. Warum konnte nicht immer alles gleich fortgehen, wie es von jeher gewesen war?

      Es war nicht gerade ein Schmerz, da sie nun scheiden sollten. So ganz zum täglichen Leben hatte Lore den beiden andern nicht gehört. Es war nur so etwas Neues, anderes.

      Da war so ein großes Tor aufgetan, und eins von ihnen ging hindurch, in die weite Welt hinein. Was mochte dort alles sein? Es war wohl alles ganz anders, als hier? Größer und schöner und voller Wichtigkeiten, voll neuer, unentdeckter Wunder. Es ging so etwas wie ein Reisewind durch alle drei hindurch.

      War es schöner, zu gehen, oder zu bleiben?

      Wer konnte das sagen?

      Oben auf dem Turm, von Frau Judiths sonnigem Fenster aus, hatten sie in die leuchtende Ferne geschaut, Kopf an Kopf. Dort hinten lag Tübingen, weit hinten. Man konnte es nicht sehen, natürlich; es war viel zu weit dorthin.

      Die ganze Albkette lag davor; alle die Höhen, die sich am Horizont hinzogen, Berg an Berg, als ob sie sich an den Händen gefaßt hielten und so durch die schöne Welt marschierten.

      Hie und da glänzte es weiß aus den bläulichen, duftigen Schleiern, in die sich die Berge gehüllt hatten. Ein felsiger Abhang, eine Burgruine. Da eine und dort eine. Warum hatten sie das sonst nie so gesehen, wie heute?

      Dort hinten irgendwo, in dieser blauen Ferne, lag Tübingen.

      Sie saßen unter dem Süßapfelbaum und sahen den umfriedeten Garten vor sich liegen in seiner stillen, heimeligen Schönheit. Die Dahlien und Astern und die hochstämmigen Herbstrosen blühten an den Rabatten. Die große Laube schimmerte leuchtend rot; sie war ganz und gar umsponnen von den Ranken des wilden Weins, auf dessen purpurnen Blättern die Sonne lag.

      Die schwarz und weiß gefleckte Katze der Frau Rektorin stieg voll Behagen auf dem Gartenweg einher und ließ sich die Sonne auf den Pelz scheinen.

      Wie schön war es hier. Und wie schön auch draußen in der Weite. Hie und da fingen sie an, von gleichgültigen Dingen zu reden. Aber es wollte nicht so recht fort mit der Unterhaltung.

      Sollten sie von dem und jenem reden, das hier blieb, während Lore ging? Wie es aber draußen sei, davon wußten sie nicht viel. Da zog Lore ein braunes Paketchen aus der Tasche. Es war ein Buch darin. „Das hat mir die Spitalbäbel geschenkt,“ sagte sie.

      „Es sei ein Andenken, und ich soll drin lesen. Ich weiß nicht, es ist keine rechte Geschichte, es ist, glaub’ ich, ein bißchen langweilig. Ich hab’ nur so hineingesehen.“

      „Langweilig?“ Dann wollten die andern nichts damit zu schaffen haben. Das war das Ärgste von allem.

      Die Spitalbäbel war ein einsames, altes Weiblein, das oben in einer Dachkammer desselben Hauses, wie die Putzmacherin Maute, wohnte. Sie war früher Leichenbesorgerin gewesen, und sie hatte in einer längst verflossenen Pockenzeit die Kranken gepflegt, draußen im Siechenhaus, das weit von den andern Häusern auf freiem Feld stand, und nun mit geschlossenen Türen und Fensterladen auf irgend eine neue Inwohnerschaft zu warten schien. Worauf die Spitalbäbel wartete, wußte man nicht so genau. Sie hatte ein kleines Krautgärtlein, das sie baute, und außerdem strickte sie grobe Strümpfe und Socken um mageren Lohn für Handwerksgesellen und Dienstmägde.

      Das Siechenhaus hatte für jedermann etwas Unheimliches. Denn wer konnte wissen, zu welchem Zweck es dereinst wieder aufgetan werden würde? Daß aber an der Bäbel selbst auch etwas besonderes hängen geblieben war, das war eine merkwürdige Tatsache.

      War es das, daß sie so viel mit den Toten zu schaffen gehabt hatte? Sie hatte ein spitziges Vogelgesicht mit ein paar beweglichen, graugrünen Äuglein, und eine hohe, dünne Stimme. Auch ging sie immer noch gekleidet wie einst als Totenfrau, in ein großes, schwarzes Umschlagtuch, dessen hinterer Zipfel fast die Erde berührte, und mit einer Haube, deren beide schwarze Flügel wie große Nachtschmetterlinge um ihren Kopf flogen. Sie hatte dereinst das Siechenhaus abgeschlossen und den Schlüssel dem Gemeinderat gebracht, und sie allein wußte, wie es nun dort drinnen aussah.

      Wenn sie hätte reden wollen. Aber sie kniff die dünnen Lippen fest aufeinander. Das war das Allergeheimnisvollste.

      Sie tat keinem Menschen etwas zuleide. Aber die Kinder hatten ein Grauen vor ihr, so ein gelindes, das bei Tag angenehm wirkt und nur in der Dämmerstunde die Schritte beschleunigt, wenn es einem begegnet, daß man ins Helle, Warme komme.

      Und nun hatte sie der Lore ein Buch zum Abschied geschenkt.

      Das war etwas Wunderbares.

      „Sie ist mir auf der Treppe begegnet,“ sagte Lore.

      „Und da hat sie sich vor mich hingestellt, und hat mir die Hand auf den Kopf getan, so —,“ Lore stand auf und legte ihre feine, weiße Hand auf Gertruds Kopf, „und das war eine eiskalte, dürre Hand, sie schüttelte den Kopf ganz stark und sagte: Kind, Kind, wenn du alles wüßtest, was kommt. Aber das weißt du nicht.

      Ich wollte gern sagen, daß ich es gar nicht wissen wolle und daß sie ihre Hand wegtun solle, aber ich konnte nicht. So habe ich gezittert.“

      Lore schwankte hin und her, als ob sie der Sturmwind schüttle.

      Die andern lachten so ein bißchen unsicher. Und Gertrud zog sachte ihren Kopf zurück, obgleich es gewiß keine „eiskalte, dürre Hand“ war, die auf ihr lag.

      „Und da hat sie gesagt — und die Augen dabei ganz klein gemacht —: ‚Da, das nimm mit auf den Weg, Kind. Da steht’s, was alles kommt. Es ist nichts mit der Welt.‘ — Ach was, ich weiß nicht mehr, was sie alles gesagt hat. Es ist auch einerlei.“

      Da gab sie dem Buch, das auf ihrem Schoß lag, einen kleinen Stoß, daß es ins Gras flog, und stieß mit der Spitze ihres zierlichen Fußes noch ein wenig daran und saß und wickelte sich ihre Locken um die Finger.

      Das Buch war aber aufgegangen und als die Kinder so beiläufig danach hinsahen, war ein Bild auf der obersten Seite.

      Das war etwas anderes, Bilder.

      Da hob Georg es aus dem Gras und sie sahen miteinander hinein. Es war aber ganz und gar kein Kinderbuch.

      Es war eine merkwürdige, schwere Geschichte von einem Mann, der aus seiner Heimat ging, weil ihm gesagt war, daß sie „die Stadt des Verderbens“ sei, und der durch unendlich viele Hindernisse, Fußangeln und Gefahren hindurch nach einer wunderbaren Stadt reiste, die ihm als Reiseziel immerwährend vor Augen stand.

      Es war ein Gleichnis für das Leben der Christen, die sich mit starkem Mut und Willen aufmachen als Wandersleute, die in dieser Welt noch nicht zu Hause sind, aber gern nach Hause kommen wollen, wann ihr Tag sich neigt, und die sich unterwegs durch nichts halten lassen.

      Es hieß „Bunyans Pilgerreise“ und es ist ein Buch, das in vielen Häusern der frommen, tiefdenkerischen und zuweilen grüblerischen Leute zu finden ist, die als „Stille im Lande“ da und dort zerstreut leben und sich zusammenfinden, um miteinander über das zu sprechen, was ihnen bei der Arbeit und am Abend bei der Lampe