„Grüß Gott,“ sagte der Kleinere und sah sie so von unten herauf an. Da fand er, daß hier nichts zu fürchten sei, und daß er schon lang mit dieser Frau zusammengelebt habe, irgendwie und wo. Und auch, daß sie sowohl mit Frau Judith, als mit der Rektorin Cabisius irgend eine Ähnlichkeit habe; er besann sich nicht, welche, er fühlte sie nur. Vor denen aber war er längst nicht mehr scheu. Da war er es auch vor ihr nicht mehr. „Ich glaube doch,“ sagte er später, als er sich selbst besser verstand, „ich glaube doch, daß mir damals einen Tag lang meine Mutter gehört hat, wie eine Mutter ihrem Kind gehört, und ich auch ihr.“
Denn es währte an jenem Tag nicht lange, da saß Georg auf dem Bettrand und hatte seine rauhe Bubenhand in die feine, weiße, heiße Hand seiner Mutter geschoben. Und sie holte die eine und andere Frage aus sich heraus, Fragen, wie ein Kind sie tut, und sah ihn an, als trinke sie etwas Langentbehrtes, Frisches aus seinem Gesicht und aus seinen Reden.
Der Bäcker Ehrensperger war froh, daß er nicht viel zu sagen brauchte. Sie waren Beide etwas hilflos, als sie versuchen wollten, einander ein Wort zu sagen. Die Frau bekam einen Augenblick eine heiße Röte in die Wangen; er war ihr fremd geworden, er war wohl nie so recht ein Teil ihres Wesens gewesen. Da setzte er sich auf einen Stuhl, der am Fenster stand und sah mit Erleichterung, daß Georg die Sache in die Hand nahm. Er ertappte sich nach einer Weile darauf, daß er die Daumen umeinander drehte. Das war ihm so zur Gewohnheit geworden; so oft er in Ruhe dasaß, tat er so. Da hörte er erschreckt auf; es war wohl nicht passend heute. Aber nach ein paar Minuten fing er wieder an. Die Uhr auf dem Türmchen, das zwischen den Bäumen herausblickte, zeigte auf ein Uhr. Da stand er auf und sagte, er wolle mit den Kindern gehen, etwas zu essen. Franz griff nach seinem Hut, er war mehr als Georg Fleisch von seines Vaters Fleisch; er wußte hier auch nicht recht etwas anzufangen. Georg rührte sich nicht. „Laß mich da,“ sagte er. Da leuchtete aus den Augen der blassen Frau ein Strahl, als ob ein helles Licht sich darin spiegele, und sie drückte in ihrer Schwachheit leise die Kinderhand, als ob sie sie festhalten wolle für immer. Ihre Gedanken gingen wohl nicht weit hinaus. Jetzt war immer.
Da ließen sie ihn sitzen und gingen.
Sie kamen lang nicht wieder.
Als sie wiederkamen, hatte Georg eine kleine Mundharmonika an den Lippen, die er meist in der Tasche bei sich trug. Er blies darauf, weich und sachte, als ob er fühle, daß hier herein keine lauten Töne paßten. Es war keine eigentliche Melodie, es war nur so ein Tonreigen, nicht tonreicher, als das Geplätscher eines Bächleins ist. Aber sie waren froh dabei, beide.
„Willst du wohl?“ sagte der Vater, „das fehlte noch, Musik machen.“
Da lächelte die Kranke. „Nein, laß ihn,“ sagte sie, freier als zuvor, „er hat mir gesagt, daß er etwas werden will, bei dem man Musik machen kann. Laß ihn.“
Dann sah sie aus, als ob sie einschlafen wollte.
Georg hielt ihre Hand und fühlte, wie die Pulse in den Fingerspitzen pochten, als ob das Leben überall da innen gegen die Wände stieße und heraus wolle. Und einmal klopfte es hart und stark unter der leichten Decke der Mutter, „klopf, klopf, klopf.“
„Mutter, was klopft so bei dir?“ fragte er.
Er sagte heute in jedem Satz „Mutter.“
„Das ist mein Herz,“ sagte sie müde.
„Laß einmal hören.“ Da legte er seinen runden Bubenkopf auf die Decke. Sie lächelte.
Sie lächelte auch noch, als die Wärterin wieder hereinkam und zu dem Mann sagte: „Sehen Sie doch,“ und den Buben von ihrer Brust wegnahm und auf den Boden stellte.
„Bst,“ sagte er, „es klopft nicht mehr. Ich habe den Kopf draufgelegt, jetzt hat es aufgehört.“
Aber er wußte nicht, was das war.
„Nein,“ sagte die Wärterin, „es klopft nicht mehr.“
Da hatte nun der Mann mit der Axt, der Tod, den letzten Hieb getan. Da hatte der Bewohner nicht mehr seines Bleibens in dem Haus. Es tat ihm auch nicht mehr not.
Er hatte heute ein freundliches Licht und eine kleine, keimende Liebe gesehen, und die Augen waren ihm davon groß und froh geworden.
Nun waren sie ja wohl stark genug, in eine Flut von Licht und in eine große, überwallende Liebe zu schauen, die in dem neuen Haus auf ihn warten mochten.
Aber unsere Sprache hat kein Wort, davon zu reden.
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Die Stadtzinkenisten hatten den Trauerchoral vom Wiblinger Kirchenturm geblasen und waren eben die Treppe hinuntergepoltert, um nun auch auf dem Weg zum Kirchhof zu blasen. Es war nächstens Zeit, ans Läuten zu gehen.
Die beiden Freunde, der Korbmacher Hollermann und der Turmwächter Nössel, hatten still zugehört und in wandernden Gedanken der Lebenden und der Toten gedacht und daß sie wohl alle in guten Händen seien und alle einmal mütterlich nach Hause geleitet werden.
Sie hatten es nicht beredet; sie wußten einer des andern Gedanken auch ohne das.
Da griff der Turmwächter auf den Sims über dem einen Fenster und holte da ein Buch herunter und las, da schon auf der Straße unten der schwarze Wagen über das Pflaster rasselte, eine Stelle, die angestrichen war und bei der ein getrocknetes Kräutlein lag:
„Denn die Welt ist vor dir wie ein Stäublein an der Wage und wie ein Tropfen des Morgentaus, der auf die Erde fällt.
Aber du erbarmst dich über alles; denn du hast Gewalt über alles.
Denn du liebest alles, was da ist, und hassest nichts, das du gemacht hast; denn du hast ja nichts bereitet, dazu du Haß hättest.
Wie könnte etwas bleiben, wenn du nicht wolltest? oder wie könnte erhalten werden, das du nicht gerufen hättest?
Du schonest aber aller; denn sie sind dein, Herr, du Liebhaber des Lebens, und dein unvergänglicher Geist ist in allen!“
Als er das gelesen hatte, nickte er zufrieden mit dem Kopf und legte das Buch wieder an seinen Ort.
„Da brauchen wir uns ja nicht weiter den Kopf zu zerbrechen,“ sagte er. „Da versammeln sie sich nun allmählich, da unten um die weiße Kapelle her, und liegen ganz still, ein jedes an seinem Ort. Und haben viel Qual und Unruhe hinter sich, und Sorgen, und haben viel Umwege gemacht, da man nicht wissen könnte, ob sich auch nur eins von ihnen nach Hause findet, wenn das nicht wäre, davon hier geredet ist: „Denn sie sind dein, du Liebhaber des Lebens, und dein unvergänglicher Geist ist in allen.“
„Ja,“ sagte Hollermann und setzte die Schildkappe auf, um zu gehen, „es wird uns ja wohl zu gut gehalten werden, daß wir davon reden als einfältige Leute, die wohl wissen, daß unser Herrgott ein ganzes Stück klüger ist als wir.
Nämlich, daß wir das nicht in unser Herz hineinbringen, das mit dem großen Unterschied drüben, der nicht auszusagen sei und nicht aufhöre; und das mit dem Gedanken, daß Gott es mit etlichen seiner Kinder in alle Ewigkeit nicht mehr zurecht bringe und ohne sie leben müsse in seiner himmlischen Herrlichkeit und Pracht. Da man ihm doch zutrauen möchte, daß er sie alle herausholen möchte aus Sumpf und Feuer und dem Tod und sie endlich einmal bei sich zu Haus sein lasse, wenn’s genug ist mit der Plage.“
Der Flickschneider hatte die Brille eingeschoben und ging mit seinem alten Kameraden das Treppchen hinab zum Läuten. „Wir haben wohl nicht so den Verstand,“ sagte er. „Das liegt uns nur so im Gemüt. Etliche sagen, die Bosheit sei allzugroß, und etliche wieder anders; es sei, als ob drüben die Geister ineinander flössen, wie die Bäche in die Flüsse, und die Flüsse ins Meer, da man die Wasser nicht mehr unterscheidet und alles ein großes Wallen ist. Aber das ist uns nicht bekannt und das wird auch so recht sein, damit wir unseres Weges gehen wie die Kinder, und nicht gar so klug sein wollen.“
Da ließen sie die große Frage, die sie nicht um der Frau willen allein aufgeworfen hatten,