Was die an Fallbesprechungen Teilnehmenden von qualitativer Forschung insbesondere lernen können, ist das Gestalten von Interviews, speziell anhand des narrativen Interviews (Mayring 2016, S. 54 ff.). Dieses Interview zeichnet sich dadurch aus, dass eine Eingangsfrage formuliert wird, die konkret genug ist, damit eine Antwort erfolgt, aber offen genug, sodass die befragte Person möglichst wenig festgelegt wird, in welcher Art sie antwortet. Die Kunst des Interviewenden besteht darin, diesen Erzählstimulus aufrechtzuerhalten.
2.5Hypothesenbildung unter Handlungsdruck
Ziel und Zweck von Fallbesprechungen und qualitativer Sozialforschung ist zuallererst die Entwicklung von Hypothesen zum Fall, also das Fallverstehen. Ungleich der Situation qualitativer Forschung steht sie dabei aber zumeist unter dem Druck, vor dem Hintergrund dieses neuen Verständnisses auch neue Handlungsoptionen für die falleinbringende Person zu entwickeln. Diese beiden Ziele in Einklang zu bringen ist in Fallbesprechungen eine Aufgabe eigener Art. Schiebt sich der Handlungsdruck zu sehr in den Vordergrund, verliert die Fallbesprechung gerade die Distanz zur Praxis, die es für ein neues Verständnis braucht. Wird die Handlungsebene zu sehr vernachlässigt, wird der Falleinbringer mit seinem Handlungsdruck alleine gelassen und damit die Zweckmäßigkeit der Fallbesprechung infrage gestellt.
Eine Konsequenz des stärkeren Handlungsdrucks bei Fallbesprechungen ist es, dass sie in ihrer Rekonstruktionsarbeit stärker als qualitative Forschungsansätze auf bestehendes Wissen zurückgreifen (müssen). Je mehr und je früher dies getan wird, umso mehr bewegen sich Fallbesprechungen im Rahmen eines klassifizierenden Verfahrens. In der sozialpädagogischen Diagnostik, einem der klassischen Anwendungsfelder von Fallbesprechungen, wird diese Unterscheidung zwischen rekonstruktiven und klassifizierenden Verfahren seit vielen Jahren diskutiert (Ader u. Schrapper 2020). Während Erstere strikt am Material entlang ihre Hypothesen zu entwickeln versuchen, arbeiten Letztere mit festen Rastern, z. B. mit Erhebungsbogen und diagnostischen Schemata. Sie erleichtern, gerade unter Zeitdruck, eine erste Einschätzung, bringen relevante Fragen ins Blickfeld. Zugleich sind sie immer in der Gefahr, das Besondere eines Falles zu verfehlen. Für Fallbesprechungen bedeutet dies, dass eine jeweils passende Balance gefunden werden muss zwischen der Arbeit am vorliegenden Material und dem Rekurs auf Wissensbestände, vor deren Hintergrund dieses Material interpretiert werden kann.
Eine Hypothese ist zunächst einmal eine Behauptung, die am Material entlang entwickelt wird, wie wir dies in Kapitel 7 vorführen werden. D. h., Hypothesen beziehen sich auf reale und empirisch zugängliche Sachverhalte. Durch das Hinzuziehen von weiterem Material und die Kontrastierung mit alternativen Hypothesen werden sie fortlaufend geprüft. Fälle entwickeln sich häufig gerade dann problematisch, wenn die Beteiligten nicht in der Lage sind, eine einmal formulierte Hypothese auch wieder fallen zu lassen, bzw. alle neuen Informationen nur noch vor dem Hintergrund einer einmal gefassten Meinung bewerten. Die Sozialpsychologie der sozialen Wahrnehmung hat diese Effekte detailliert beschrieben (Martin u. Wawrinowski 2014). Bei der Hypothesenbildung als Konstruktionen zweiter Ordnung sollten sich die Beteiligten daher der prinzipiellen Vorläufigkeit von Hypothesen bewusst bleiben.
Gute Hypothesen sind so kurz wie möglich und so lang und differenziert wie nötig. Sie sollten sprachlich prägnant sein und verständlich formuliert. Sie sollten keine Allgemeinplätze beinhalten und nicht einfach Tatsachenbehauptungen oder Fakten aneinanderreihen. Gute Hypothesen sollten sachlich formuliert sein und zur Diskussionen anregen, in denen sie abgewogen, überprüft, erweitert, präzisiert oder auch verworfen werden können.
Verstehensebene und Handlungsebene stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Wechselwirkung, was im Blick behalten werden sollte. Hypothesen implizieren sowohl in der Wahl der Ebene wie in ihrer Formulierung häufig Handlungsoptionen bzw. legen sie nahe. Umgekehrt, wenn bestimmte Handlungsoptionen von vorneherein ausgeschlossen werden oder der Verfügungsmacht der handelnden Personen entzogen erscheinen, bleiben diese Bereiche eventuell schon im Verstehensprozess ausgeblendet.
Bei einer Fallbesprechung, bei der es um eine Wohngruppe mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit emotionalen Auffälligkeiten insbesondere autistischer Art ging, wurde ein Mädchen von ca. 15 Jahren mit der Diagnose Asperger-Syndrom vorgestellt, die mit ihrem häufig aggressiven Verhalten die Gruppe stark dominierte. Die Mitarbeiterinnen richteten ihre Aktionen weitgehend darauf aus, alles zu unterlassen, was dieses Mädchen in einen Erregungszustand bringen könnte. Dabei beschlich sie konstant ein schlechtes Gewissen, dass dies auf Kosten der anderen Gruppenmitglieder gehe, die weniger Aufmerksamkeit bekämen bzw. sich unterordnen müssten. Im Verlauf der Informationserhebung wurde deutlich, dass dieses Muster der Dynamik ihrer Herkunftsfamilie folgte, in der die Eltern ebenfalls alles unternommen hatten, um Krisen dieser Art zu verhindern, dort auf Kosten eines Geschwisterkindes. Als dies, auch vor dem Hintergrund eines Paarkonfliktes der Eltern, nicht mehr tragbar erschienen war, erfolgte der Umzug in die Wohngruppe, wo sich schnell das gleiche Verhaltensmuster einspielte. Verstärkt wurde dies durch die damalige Teamsituation, da mehrere Positionen neu besetzt worden waren durch junge und noch wenig berufserfahrene Mitarbeiterinnen. Wie schon in der Familie verstellte nun auch im Team die Erklärung der Verhaltensauffälligkeiten vor dem Hintergrund der Asperger-Diagnose den Blick darauf, dass das Verhalten des Mädchens durch seinen Erfolg massiv belohnt und stabilisiert worden war und sich dies nun in der WG fortsetzte. Auf meine Frage, ob es eine (konzeptionelle) Vorstellung davon gäbe, wann eine Grenze erreicht sei, sodass ein Jugendlicher eventuell nicht mehr in der Einrichtung gehalten werden könne, antworteten die beiden Falleinbringerinnen, darüber könnten sie noch nicht einmal mit ihrer Gruppenleitung sprechen, in der Einrichtung insgesamt sowieso nicht. Vor diesem Hintergrund erschien es ihnen das kleinere Übel, die Auffälligkeiten des Mädchens weiter zu ertragen. Das Wissen, dass das Mädchen die Gruppe aufgrund der Altersstruktur der Gruppe in etwa einem Jahr verlassen würde, erleichterte ihnen dies. Die Einschränkung des Verstehensprozesses vor dem Hintergrund der angenommenen und ausgeschlossenen Handlungsoptionen hatte einen Preis für alle Beteiligten, für das Team, für die anderen Kinder in der Gruppe und für das Mädchen selber, das in seinem Verhaltensmuster weiter bestärkt wurde.
Je stärker eine Hypothese zum Fall auf eine Handlungsoption hinzuweisen scheint, umso mehr sollte man darauf achten, auch alternative Erklärungen und die mit ihnen jeweils verbundenen Konsequenzen zu bedenken. Werden bestimmte Handlungsebenen ausgeblendet, hier z. B. aus Angst vor der Reaktion der Gruppenleiterin, kann dies massiv den Verstehensprozess behindern. In letzter Konsequenz heißt dies, dass der Verstehensprozess Vorrang vor der Entwicklung von Handlungsoptionen hat. Wird er dem Handlungsdruck geopfert, wäre der Fallbesprechung die Grundlage entzogen. Bleibt die Entwicklung einer Handlungsoption aus, mag dies unbefriedigend sein. Es bedeutet aber keinesfalls, dass die Besprechung erfolglos gewesen ist.
Fallbesprechungen sind Teil eines prozesshaften Geschehens, mit einem Vorher und einem Nachher. Es kann gerade ein gutes Ergebnis einer Fallbesprechung sein, die Begrenzung der eigenen Handlungsoptionen hinzunehmen und stattdessen mit dem dadurch sich eröffnenden neuen Verständnis in die Praxis zurückzugehen. Es bleibt dann abzuwarten, was sich durch dieses neue Verstehen verändert.
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