Wer professionell mit Menschen arbeitet, stößt immer wieder an Grenzen: Die Arbeit entwickelt sich nicht wie erwartet, stagniert oder bricht ab; die Akteure fühlen sich verwickelt, wissen aber nicht wirklich, wie und warum; Gefühle von Ratlosigkeit, Zweifel an der eigenen Kompetenz, Resignation oder Ärger stellen sich ein. Manchmal mag ein Gespräch mit einer Kollegin zwischen Tür und Angel weiterhelfen. Vielleicht hilft ein Buch über Ablöseprozesse bei Scheidungskindern, die nächste Fortbildung über Mitarbeiterführung, eine Studie über Frauen in Führungspositionen oder das abendliche Gespräch mit dem Ehepartner. Ob dabei das zur Sprache kommt, »was der Fall ist«, und brauchbare Ideen entstehen bezüglich dessen, »was dahintersteckt«, bleibt dem Zufall überlassen. Genau darauf zielt eine Fallbesprechung ab: Es wird eine Gesprächssituation geschaffen, in der ein »Fall«, d. h. eine spezifische berufliche Situation in ihrer Besonderheit, besprochen werden kann, damit vor einem erweiterten Verständnis mögliche nächste Schritte und Handlungsoptionen entwickelt werden können.
Entstanden ist die Fallbesprechung in den beruflichen Feldern der Sozialen Arbeit und der Psychotherapie als Hilfe für die Helfer. Im Verlauf ihrer Entwicklung und Professionalisierung rückt in diesen Handlungsfeldern die helfende Beziehung selber in die Aufmerksamkeit. Es entsteht eine Beziehungsdiagnostik, die nicht nur auf die Lebenslage der Hilfesuchenden schaut, sondern zugleich die Bedingungen der Hilfe berücksichtigt, ihre institutionelle und organisatorische Rahmung und die konkrete Beziehung zwischen den Professionellen und den Adressaten der Hilfe. Fallbesprechungen sind der Ort, an dem all dies reflektiert werden kann. Begrifflich zu unterscheiden ist die Fallbesprechung von der (Einzel-)Fallarbeit als einem spezifischen Instrument der Sozialen Arbeit.
Parallel zur Professionalisierung der helfenden Berufe dringt seit den 1930er-Jahren psychosoziales Wissens auch in andere berufliche Felder vor. Die anfangs genannte Führungskraft muss sich z. B. Gedanken machen, warum die Vermittlung einer organisatorischen Veränderung an eine Mitarbeiterin nicht gelingt, es reicht nicht, sie einfach anzuordnen. In Zeiten schneller Veränderung müssen die Arbeitsbeziehungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, in Teams und Projektgruppen immer wieder neu gestaltet werden. Auch außerhalb der Sozialen Arbeit etablieren sich damit verschiedene Formen der Fallbesprechung.
1.2Was verstehen wir unter Fall und Fallbesprechung?
Konzeptionell wollen wir das Spezifische von Fallbesprechungen gegenüber anderen Formen der Beratung oder beruflichen Qualifizierung anhand von fünf Kriterien beschreiben. Sie müssen erfüllt sein, damit in unserem Sinne von einem Fall und einer Fallbesprechung gesprochen werden kann.
Ein Fall wird von jemandem erzählt
Wir haben es immer mit dem Fall einer konkreten Person zu tun, die den Fall zu einem solchen macht. Die jeweilige Geschichte – die Erzählung und Darstellung eines Falles – kann nur in Zusammenhang mit dem Erzählenden gehört und verstanden werden. Professionelle Helfer und Berater und Führungskräfte unterschiedlichster Art wählen aus einer Vielzahl von Personen und Situationen eine besondere aus und bestimmen damit, welchen Ausschnitt ihres beruflichen Handelns sie zum Gegenstand einer Beratung machen wollen. Bei ihrer Darstellung handelt es sich um eine subjektive Beschreibung aus der jeweiligen Perspektive der Erzählenden. Damit wird die Frage hinfällig, ob das Erzählte stimmt oder nicht, »richtig« oder »falsch« sei. Der Fall existiert nicht auf objektive Weise, unabhängig vom Erzähler, sondern nur in Zusammenhang mit ihm. Die Erzählenden gehören zum Fall und müssen beim Versuch, ihn zu verstehen, mit einbezogen werden.
Die Situation wurde vom/von der Erzählenden selbst erlebt, er/sie ist Teil der Interaktion
Fallbesprechungen sind nur dann sinnvoll, wenn die Falleinbringenden Teil der Situation sind, von der sie erzählen. Sie können dabei unterschiedliche Rollen mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten einnehmen, sei es als Leiterin oder Berater, sei es als Teammitglied, Kollegin, Teilnehmer. Auch können mehrere Personen an einem Fall beteiligt sein. Dann stehen mehrere Erzählungen nebeneinander, die sich ergänzen, aber auch widersprechen können. Es reicht jedoch nicht, wenn die Erzählenden nur Beobachter oder unbeteiligte Augenzeugen waren, über Dritte davon gehört oder davon gelesen haben. Die Erzählenden müssen selbst dabei gewesen sein und über eigenes Erleben und eigene Eindrücke verfügen.
Ein Fall beinhaltet eine konkrete soziale Situation oder Interaktion
Es bedeutet einen grundlegenden Unterschied, ob man sich bei der Untersuchung sozialer Situationen vom Allgemeinen zum Besonderen oder vom Besonderen zum Allgemeinen bewegt. Schaut man zuerst auf das Allgemeine, so geht es um Klassifizierungen oder Typen von Personen. Bei den Beispielen könnte man folgende Fragen stellen: Wie gehen Vorgesetzte mit dem Veränderungswiderstand von Mitarbeiterinnen um? Wie können sich Eltern gegen gewalttätiges Verhalten ihrer Kinder wehren? Was kann zum Abbruch von Beratungsbeziehungen führen? Eine Fallgeschichte in unserem Sinne beschreibt im Unterschied dazu einen Einzelfall mit konkreten Personen in einer konkreten Situation. Das Besondere und Einzigartige dieser Situation soll untersucht und verstanden werden: Der Geschäftsführer fragt nach dem Umgang mit dieser spezifischen Mitarbeiterin bei der anstehenden Veränderung; das Team der Jugendhilfe fragt nach einer bestimmten Familie; die Beraterin würde gerne die Situation mit ihrer Klientin besser verstehen. Wer, wie in diesen Beispielen, personenbezogene soziale Dienstleistungen erbringt, also professionell als Lehrer, Pädagogin, Therapeut, Führungskraft, Supervisorin arbeitet, hat es immer mit Individuen und Gruppen mit ihrer jeweiligen Geschichte und speziellen Dynamik zu tun. Sie gilt es zu verstehen und zu gestalten. Zwar greifen Professionelle dafür auf ihre jeweiligen Wissensbestände zurück, ihre Professionalität liegt aber gerade darin, ihr Wissen falladäquat umsetzen zu können und die Kluft zwischen Theorie und Praxis immer wieder neu zu überbrücken. Fallbesprechungen sind von zentraler Bedeutung dafür, diese professionelle Fertigkeit zu erwerben, aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln.
Die Falleinbringenden haben eine Frage und/oder ein Anliegen
Fälle werden nicht ohne eine Absicht erzählt. In der Arbeitswelt können viele Motive hinter den Erzählungen über berufliche Situationen stehen: die Darstellung der eigenen Leistung und der eigenen Erfolge; das Weitergeben wichtiger Erfahrungen an neue oder unerfahrene Kolleginnen und Mitarbeiter; die Fallübergabe an Kollegen, die einen vertreten oder den Fall übernehmen. Zu einer Fallbesprechung in unserem Sinne wird die Erzählung eines Falles erst durch eine Frage. Die Führungskraft will z. B. herausfinden, ob die Situation für ihn unlösbar ist; die beiden Mitglieder des Jugendhilfeteams wollen verstehen, warum ihre Arbeit mit der Mutter und ihrem Sohn bisher so wenig bewirkt hat, um daraus alternative Vorgehensweisen abzuleiten; die Beraterin möchte klären, was sie selbst dazu beigetragen hat, dass ihre Klientin nicht mehr kommt. Die Frage ist die Einladung an die Zuhörenden, an der Klärung einer Problemsituation mitzuwirken. Die Frage bezeugt, dass die Situation, mag sie auch lange zurückliegen oder schon abgeschlossen sein, die Erzählenden beschäftigt. Wer keine Frage zum eigenen Fall einbringen kann, hat häufig auch keinen Beratungsbedarf, sondern andere Motive, von dem Fall zu erzählen. Die Fragen zum Fall können sich aber im Verlauf der Fallbesprechung verändern. Damit ist sogar zu rechnen. Eine gute Fallbesprechung kann auch darauf hinauslaufen, dass die Falleinbringerin am Ende die Frage formulieren kann, die es zu stellen lohnt.
Die Erzählung braucht ein Gegenüber
Die Fallerzählung hat nicht nur eine soziale Situation zum Gegenstand, sie ist selber eine. Fallbesprechungen finden auch in vielen dyadischen Beratungsformaten mit nur einem Gegenüber