Seine Art sagte Catherine gar nicht zu; immerhin, er war James’ Freund und Isabellas Bruder. Ihr Urteil milderte sich durch Isabellas Versicherung, John hielte sie für ein äußerst reizendes Mädchen, wie ihr berichtet wurde, als sie sich zurückzogen und den neuen Hut bewunderten. Auch bat John sie, mit ihm zu tanzen. Diese Angriffe hätten wenig bedeutet, wenn sie älter oder eitler gewesen wäre. Aber wo sich Jugend mit Schüchternheit paart, bedarf es einer ungewöhnlichen Festigkeit, um dergleichen Schmeicheleien zu widerstehen. Nach dieser bei den Thorpes verbrachten erfolgreichen Stunde begaben sich die beiden Morlands zu Mr. und Mrs. Allen. Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, meinte James: »Nun, Catherine, wie gefällt dir mein Freund Thorpe?« Worauf sie sogleich erwiderte: »Er gefällt mir sehr gut, er ist sehr angenehm«, anstatt zu sagen: »Ich mag ihn gar nicht«, was sie wohl getan hätte, wenn sie nicht sowohl Freundschaft wie Schmeichelei erlegen wäre.
»Er ist der gutmütigste Kerl, der je gelebt hat; ein wenig prahlerisch; aber das liebt ihr Frauen ja! Und wie gefällt dir die übrige Familie?«
»Sehr, sehr gut, wirklich - und Isabella ganz besonders.«
»Das höre ich gerne, sie ist die geeignete Freundin für dich, so vernünftig, natürlich und liebenswürdig. Ich hatte schon immer gewünscht, ihr möchtet einander kennenlernen. Und sie scheint dich auch sehr zu schätzen. Sie lobte dich in den höchsten Tönen. Und auf ein Lob von Miss Thorpe kannst sogar du, Catherine, stolz sein.« Dabei nahm er ihre Hand liebevoll in die seine.
»Das bin ich auch«, erwiderte sie. »Ich mag sie sehr und bin entzückt, dass du sie auch schätzt. Als du mir seinerzeit über deinen Besuch bei den Thorpes schriebst, hast du sie kaum erwähnt.« :»Weil ich glaubte, dich bald selbst zu sehen! Hoffentlich kommt ihr in Bath recht oft zusammen. Sie ist ein liebenswürdiges Mädchen - und so klug! Sie scheint der Abgott der Familie zu sein. Und hier wird man sie wohl auch sehr bewundern, ist es nicht so?«
»Ja, sehr sogar! Mr. Allen hält sie für das hübscheste Mädchen in Bath.« »Das glaube ich auch! Und Mr. Allen kennt sich in weiblicher Schönheit aus. Ich brauche wohl nicht zu fragen, ob du hier glücklich bist, meine liebe Catherine. Mit einer solchen Gefährtin wie Isabella Thorpe kann es gar nicht anders sein; und die Allens sind gewiß auch sehr freundlich zu dir.«
»Ja, sehr freundlich. Ich war noch nie so glücklich. Und jetzt, wo du da bist, wird es noch reizender. Wie nett von dir, dass du den weiten Weg nicht gescheut hast, nur um mich zu sehen!« James nahm diese Dankbarkeitsbezeigung ruhig entgegen und sprach auch sein Gewissen für deren Annahme frei, indem er mit völliger Aufrichtigkeit sagte: »Wirklich, Catherine, ich habe dich sehr lieb.«
Darauf tauschten sie Fragen und Berichte über das Ergehen ihrer Geschwister aus, und außer James kleiner lobender Abschweifung zu Miss Thorpe unterhielten sie sich auf diese Weise, bis sie die Pulteney Street erreichten, wo James mit großer Freundlichkeit von Mr. und Mrs. Allen empfangen, zum Essen eingeladen und von Mrs. Allen fast im gleichen Atemzug aufgefordert wurde, den Preis und die Vorzüge eines neuen Muffs und Pelzkragens zu erraten. Seine Verabredung in den Edgar-Villen gestattete ihm nicht, Mr. Allens Einladung anzunehmen, und er mußte bald wieder davoneilen, nachdem die Anforderungen von Mrs. Allen befriedigt waren. Die Zeit, zu der sich die beiden Familien treffen wollten, war festgelegt, und so konnte sich Catherine ganz dem Genuß ihrer erregten, ruhelosen und erschreckten Phantasie über den Seiten von »Udolpho« hingeben, so dass sie für alle Kleider und Essenssorgen unempfindlich war und auch Mrs. Allen nicht über das Ausbleiben einer erwarteten Schneiderin trösten konnte. Von sechzig Minuten blieb ihr kaum eine für ihr eigenes Glück, nämlich, dass sie für den Abend bereits vergeben war. »Udolpho« und der Schneiderin zum Trotz erreichte die Familie aus der Pulteney Street die großen Gesellschaftsräume rechtzeitig. Die Thorpes und James Morland waren nur wenig früher eingetroffen, und nachdem Isabella die übliche Begrüßungszeremonie in lächelnder und liebevoller Hast hinter sich gebracht, den Sitz ihres Kleides gebührend bewundert und ihre Locken voll Neid betrachtet hatte, folgten die beiden jungen Mädchen ihren Beschützerinnen Arm in Arm in den Ballsaal. Wenn ihnen ein Gedanke kam, raunten sie einander zu, aber noch häufiger verständigten sie sich durch einen Händedruck oder ein verständnisinniges Lächeln. Der Tanz begann fast sofort. Und James, der mindestens ebensolange schon vergeben war wie seine Schwester, hatte es erschreckend eilig, sich mit Isabella einzureihen; John jedoch fehlte. Er hatte in Gesellschaft eines Freundes das Spielzimmer aufgesucht; und so war Isabella durch nichts eher zum Tanzen zu bewegen, bevor ihre liebe Catherine sich nicht ebenfalls unter die Paare mische.
»Nicht um alles in der Welt tanze ich ohne Ihre liebe Schwester. Es würde uns wahrscheinlich für den ganzen Abend trennen.« Catherine war über diese Freundlichkeit gerührt, und so blieb alles für einige Minuten in der Schwebe, bis Isabella ihre Unterhaltung mit James unterbrach und Catherine zuflüsterte: »Liebstes, ich werde dich doch verlassen müssen; dein Bruder ist so ungeduldig, er drängt zum Tanzen. Du nimmst es mir nicht übel, nicht wahr, und John wird wohl auch im Augenblick zurückkommen, dann kannst du mich leicht finden.« Catherine war zwar ein wenig enttäuscht, aber viel zu gutmütig, um Einwände zu erheben; und da James sich erhob, hatte Isabella nur noch Zeit, ihrer Freundin die Hand zu drücken und zu sagen: »Auf Wiedersehen, Liebes!« Dann eilten sie davon. Da auch die jüngeren Damen Thorpe tanzten, war Catherine jetzt der Gnade von Mrs. Thorpe und Mrs. Allen überlassen, zwischen denen sie Platz genommen hatte. Wie ärgerlich, dass Mr. Thorpe nicht wiederkam! Nicht nur, dass sie sich auf das Tanzen gefreut hatte, sie teilte nun auch mit mancher anderen jungen Dame die Schande, ohne Tänzer zu sein, denn die ihr bereits widerfahrene Ehre war ihr nicht anzusehen. In den Augen der Welt gedemütigt zu sein, äußerlich Schande zu tragen, während das Herz rein und unschuldig und nur das schlechte Benehmen eines anderen die Ursache der Erniedrigung ist, gehört zu den dem Leben einer Heldin eigentümlichen Umständen, und standhafte Haltung ist ihrem Charakter vor allem eigen. Auch Catherine besaß diese Standhaftigkeit; sie litt, aber keine Klage drang über ihre Lippen.
Aus dieser Demütigung wurde sie nach zehn Minuten zu angenehmeren Empfindungen erweckt, zwar nicht durch Mr. Thorpes, sondern durch Mr. Tilneys Anblick. Leider schien es nur so, als ob er sich ihr nähere, und deshalb verflog das Lächeln wie das Erröten, welches Catherines Wangen bei seinem plötzlichen Erscheinen übergoß, ohne ihre heldische Bedeutung zu schmälern. Er sah so hübsch und lebhaft aus wie je und sprach angeregt mit einer eleganten, freundlich aussehenden jungen Dame an seinem Arm, seiner Schwester, wie Catherine sogleich erkannte. So hatte sie keine Gelegenheit, den Helden für alle Zeiten verloren zu halten, weil er schon einer anderen gehörte. Da sie sich immer nur vom Wahrscheinlichsten leiten ließ, kam es ihr gar nicht in den Sinn, Mr. Tilney könne schon verheiratet sein. Er erinnerte auch nicht in Benehmen oder Unterhaltung an die verheirateten Männer ihres Bekanntenkreises, hatte nie seine Frau erwähnt, aber von einer Schwester gesprochen. Hieraus schloß sie sofort, dass die Dame an seiner Seite diese Schwester sei. Daher saß Catherine aufrecht da, blieb all ihrer Sinne mächtig, anstatt erbleichend an Mrs. Allens Busen zu sinken. Nur ihre Wangen glühten ein wenig.
Mr. Tilney und seine Gefährtin näherten sich zwar nur langsam, aber sie folgten im Kielwasser einer Dame, die mit Mrs. Thorpe befreundet war. Diese Dame begrüßte Mrs. Thorpe und die beiden taten ein gleiches, da sie zu ihr gehörten. Nun erblickte Mr. Tilney Catherine und schenkte ihr ein Lächeln des Wiedererkennens, das sie freudig erwiderte. Er kam noch dichter heran und sprach sie und Mrs. Allen an, die ihn höchst freundlich mit den Worten begrüßte: »Ich freue mich, Sie wiederzusehen; ich fürchtete schon, Sie hätten Bath verlassen.« Man erfuhr, er sei eine Woche verreist gewesen, und zwar gleich an dem Morgen nach ihrer Bekanntschaft.
»Die Rückkehr wird Sie hoffentlich nicht reuen, denn Bath ist so recht der Ort für junge wie für ältere Leute. Wenn mein Mann einmal äußert, er sei seiner überdrüssig, dann rate ich ihm jedesmal, nicht zu klagen, denn Bath sei wirklich der angenehmste Badeort. In dieser langweiligen Jahreszeit ist es hier doch viel schöner als zu Hause. Ich halte ihm immer wieder das Glück vor Augen, dass ihm gerade dieses Bad verordnet würde.«
»Hoffentlich wird Ihr Gatte sich auch diesem Ort verpflichtet fühlen,