»Erzähle später, Charlotte, führe mich zu Ingrid«, bittet Maria mit leiser Ungeduld.
»Nein, Maria – erst sollst du alles wissen, dann kannst du mich verdammen! Ich habe schlecht über dein Kind gewacht!«
Charlottes Augen hängen mit stummer Qual an Maria, und tieferschrocken beugt sich diese zu der jungen Frau hinab.
»Du quälst dich mit irgendeinem schweren Vorwurf, Charlotte, ich kenne zwar diesen Grund nicht genau, aber ich weiß, daß du niemals deine Pflicht als Mutter vernachlässigen würdest.«
In unfaßbarem Staunen hebt sich Charlottes tränenvoller Blick zu Maria. »So sehr vertraust du mir?«
»Ja!«
»Dann komm.«
Arm in Arm treten die beiden Frauen in das Krankenzimmer. Man hat Ingrid in einem Gastzimmer untergebracht, damit sie nicht gestört wird.
Maria tritt in den matterleuchteten Raum. Alles verschwimmt vor ihren Augen. Nur das Kinderbett sieht sie und den schmalen abgezehrten Kinderkörper. Ein glühendes Gesicht mit geschlossenen dunkelumränderten Augen läßt ihren Atem stocken.
»Ingrid!«
Neben dem Bett fällt sie in die Knie und legt den Kopf auf die heiße Kinderhand.
Charlotte lehnt bleich an der Wand. Die Tränen rinnen über ihre Wangen.
Lange liegt Maria auf den Knien, und ein heißes Gebet nach dem anderen schickt sie zum Himmel empor.
»Sie darf nicht sterben! Ingrid muß leben!« flüstert sie, und jedes ihrer Worte dringt Charlotte wie ein Dolchstoß ins Herz.
Einmal hebt Maria den Kopf. Sie sieht die junge Frau immer noch an der Wand lehnen und ruft sie zu sich.
»Komm, Charlotte!«
Charlotte wankt, mehr als daß sie geht zu ihr hin. Maria hat ihre Kraft zurückgewonnen. Sie nötigt Charlotte, die sich kaum noch auf den Füßen halten kann, in den bequemen Sessel neben Ingrids Lager.
Dann übernimmt sie die Pflege ihres Kindes. Sie ist nicht mehr von dem Bett der kleinen Kranken wegzubringen. Sie duldet nur Charlotte im Zimmer.
Und nun ringen beide Frauen buchstäblich dem Tode seine Beute ab. Alles, was in Menschenmacht steht, geschieht, dem Kinde jede erdenkliche Erleichterung zu verschaffen.
Es ist eine mühevolle und aufreibende Zeit. Charlotte wird von Tag zu Tag hinfälliger und mutloser. Zuletzt duldet Maria nicht mehr, daß sie sich an der Pflege beteiligt. Nur Maria hofft mit starkem Gottvertrauen.
»Der liebe Gott kann unmöglich so grausam sein und mir mein Kind nehmen!« sagt sie einmal zu Charlotte.
Charlotte lernt immer mehr verstehen. So kann nur eine Mutter sprechen! Und wieder quälen sie Zweifel und Gewissensbisse. – Hat sie damals recht gehandelt, als sie Marias Opfer annahm? – Hätte sie, die ein paar wunderbare Jahre reinen Glücks verleben durfte, nicht verzichtend zurücktreten sollen? – Das sind ihre Gedanken, als sie ermattet im Sessel ruht.
Die junge Frau fährt erschrocken auf.
»Was ist? – Ist es soweit?« Sie verstummt jäh, denn Maria liegt plötzlich vor ihr auf den Knien und drückt den dunklen Kopf in ihren Schoß.
»Charlotte, das Glück – ich – ich glaube, Ingrid ist gerettet – die Krise ist überstanden!«
Maria, die bisher all den furchtbaren seelischen Erschütterungen tapfer standgehalten hat, bricht zusammen. Sie liegt kraftlos am Boden und weint und schluchzt vor Freude.
»Charlotte! Charlotte!« Immer wieder ruft sie den Namen der Frau, die ihr in den schweren Stunden so treu beigestanden hat.
Maria weiß nichts von der Geburt des Jungen. Charlotte hat es ihr bisher zu verheimlichen gewußt. Sie wollte keine neue Wunde schlagen.
Jetzt klopft es leise, und Frau von Delian tritt lautlos ein. »Charlotte, das Kind muß genährt werden!«
»Das Kind –?«
»Ja, Maria, mein Junge, er ist acht Wochen alt – ich – ich –«
Sie schämt sich plötzlich unsagbar vor den ernsten Augen Marias, doch über deren Gesicht breitet sich ein Schein stiller Freude.
»Darf ich deinen Jungen sehen?«
»Gern, Maria.«
»Bring mir deinen Buben!« bittet Maria leise. Sie erhebt sich, trocknet das tränennasse Gesicht und nimmt ihren Platz am Bett des Kindes, das sie dem Tode abgerungen hat, wieder ein, faltet die Hände und lauscht den gleichmäßigen Atemzügen Ingrids.
Als Charlotte mit ihrem Kinde eintritt, findet sie Maria schlafend vor, um den Mund ein weiches Lächeln.
Mit wildklopfendem Herzen bleibt sie im Türrahmen stehen.
*
»Bernd!«
Er schrickt zusammen und fährt herum. Nach Aufklärung drängend, blickt er seiner Frau entgegen.
»Ingrid ist gerettet!« haucht Charlotte.
Da steht Bernd mit einem Ruck auf, eilt ihr entgegen und nimmt sie in seine Arme.
»Daran hat Maria das Hauptverdienst, Charlotte. Gott, war das eine entsetzliche Zeit!« Und nochmals packen ihn Zweifel. »Dürfen wir wirklich hoffen?«
»Ja, Maria sagt, die Krise sei überstanden. Der Sanitätsrat hat gestern schon davon gesprochen, daß es sich heute entscheiden – müßte. Er äußerte sich in gleicher Weise. Eine bessere Pflegerin als Maria hätte er nirgends finden können.«
Bernd kämpft mit einer tiefen Bewegung. Doch schon spricht Charlotte weiter: »Maria ist vor Erschöpfung eingeschlafen. Wir wollen sie bequem betten. Willst du mir behilflich sein? Sie soll, wenn sie erwacht, ihr Kind sofort vor sich sehen.«
Um Marias Ruhe nicht zu stören, hat Bernd bis jetzt das Krankenzimmer gemieden, obwohl es ihn mit aller Macht dorthin zog.
Er ist tieferschüttert, als er sich kurz darauf über die beiden Schläfer neigt. Zuerst betrachtet er wehmütig das veränderte Gesichtchen des Kindes, dann tritt er zaghaft zu der schlafenden Maria.
Wie nahe steht sie seinem Herzen! – Und er darf sich nicht anmerken lassen, was er bei ihrem Anblick empfindet. Aber Charlottes Augen sehen scharf.
Als Bernd wieder in die Gegenwart zurückfindet, hat Charlotte das Zimmer verlassen. Nun tritt Frau von Delian ein. Man bettet Maria so weich wie möglich auf das Schlafsofa. Sie rührt sich nicht, und ein Lächeln umspielt ihren Mund.
*
So ist in Bernds Heim die erste Nacht eingekehrt, in der die Bewohner – mit einer einzigen Ausnahme – von einem schweren Druck befreit, den erquickenden Schlaf finden, der sie in der sorgenvollen Zeit verlassen hatte.
Charlotte liegt schlaflos auf ihrem Bett. Die Hände über der Brust gefaltet, grübelt sie in die Stille der Nacht.
Sie wird das Bild Marias nicht wieder los. Ihr bangt vor der Stunde, da Ingrid wieder mit klaren Augen und klarem Verstand erwachen wird und Maria Abschied nehmen muß.
Charlottes Gedanken gehen weiter zurück. Sie überdenkt die schönen Jahre des Glücks ihrer Ehe mit Bernd. Alles, was sie tief im Herzen ersehnte, ist in Erfüllung gegangen. Was erwartet sie eigentlich noch vom Leben? –
Noch einmal will sie ihr Kind küssen – zum letzten Male will sie die reine Stirn mit ihren Lippen berühren – dann mag das Ende kommen! –
Charlotte schleppt sich förmlich vorwärts, umklammert haltsuchend den Griff des Wagens, und mit immer mehr schwingender Kraft bringt sie ihre Lippen dem Gesicht ihres Buben näher.
Heller und heller wird es um sie – sie lächelt, als sie die weiche Haut ihres Kindes spürt.
Ihr