Die Verstellung, zu welcher Consuelo sich mit Erröten hergeben musste, war ihr überaus peinlich. Sie klagte sanft darüber gegen Albert, wenn sie ihm verstohlen ein Paar Worte sagen konnte, und bat ihn, auf sein Vorhaben zu verzichten, wenigstens so lange, bis die Wachsamkeit der Tante nachlassen würde. Albert unterwarf sich ihrem Willen, ersuchte sie jedoch, ihre Morgenspaziergänge in der Nähe des Parks fortzusetzen, damit er einen günstigen Augenblick wahrnehmen könnte, um sich ihr anzuschließen.
Consuelo hätte lieber darauf verzichtet. Sie ging zwar gern spazieren und es war ihr ein Bedürfnis, sich alle Tage ein wenig außerhalb dieser Mauern und Gräben zu bewegen, wo ein Gefühl von Gefangenschaft ihr die Sinne beengte; aber es tat ihr weh, Personen, die sie achtete und deren Gast sie war, zu hintergehen. Ein wenig Liebe hebt wohl manche Bedenklichkeiten, aber die Freundschaft überlegt, und Consuelo war sehr überlegend.
Man befand sich in den letzten schönen Sommertagen, denn es waren schon mehre Monate verflossen, seit sie auf Riesenburg wohnte. Welch ein Sommer für Consuelo! Der blasseste Herbst in Italien hatte mehr Licht und mehr Wärme. Aber die milde Luft, der oft mit weißen, leichten, stockigen Wolken umflorte Himmel hatten doch auch ihren Reiz und ihre Schönheit.
Sie fand auf ihren einsamen Spaziergängen ein Behagen, zu dem vielleicht die geringe Lust, welche sie hatte, die Grotte wiederzusehen, ein wenig beisteuerte. Obgleich sie dazu entschlossen war, fühlte sie doch, dass Albert ihr eine Last vom Herzen nähme, wenn er sie ihres Versprechens entließe; und wenn sie nicht mehr unter dem Einfluss seines flehenden Blickes und seiner begeisterten Reden stand, ertappte sie sich darauf, dass sie im Geheimen die Tante segnete, die sie durch die Hindernisse, welche sie ihr alle Tage in den Weg stellte, ihrer Verpflichtung überhob.
Eines morgens sah sie vom Rande des Baches, an welchem sie entlang ging, Albert hoch über ihr sich auf die Einfassung seines Gärtchens lehnen. Ungeachtet der Entfernung fühlte sie sich doch fast unaufhörlich unter dem unruhigen, leidenschaftlichen Auge dieses Mannes, in dessen Macht sie gewissermaßen geraten war.
– Meine Lage ist doch seltsam, sagte sie zu sich; während dieser beharrliche Freund mich beobachtet, um zu sehen, ob ich der Hingebung, die ich ihm gelobt habe, treu bin, wird mir ohne Zweifel von einem anderen Punkte des Schlosses aufgepasst, ob ich mich ihm nicht in einer Weise nähere, welche ihre Sitte und ihr Anstandsgefühl verbieten. Ich weiß nicht, was in beiden Seelen vorgeht. Die Baronesse Amalie kommt nicht wieder. Das Stiftsfräulein scheint Misstrauen gegen mich zu hegen und mich kälter zu behandeln. Der Graf Christian verdoppelt seine Freundschaft und tut, als ob er sich vor Porpora’s Ankunft fürchte, welche vermutlich das Zeichen zu meiner Abreise sein wird. Albert scheint es zu vergessen, dass ich ihm untersagt habe, sich auf meine Liebe Hoffnung zu machen. Als ob er alles von mir zu erwarten hätte, verlangt er nichts für die Zukunft und entsagt doch dieser Leidenschaft nicht, die ihn zu beglücken scheint, ungeachtet meines Unvermögens sie zu teilen.
Und bei dem allen gehe ich hier umher wie eine erklärte Liebste, jeden Morgen auf eine heimliche Zusammenkunft mit ihm passend, die ich gar nicht wünsche, weil sie mich dem Tadel und, was weiß ich, der Verachtung einer Familie aussetzt, welche weder meine Aufopferung für ihn, noch mein Verhältnis zu ihm begreifen kann, denn ich begreife ja das alles selbst nicht und sehe nicht ein, wozu es führen soll. Wunderliches Schicksal, das ich habe! Bin ich denn dazu verdammt, mich ewig so hinzugeben, ohne von dem geliebt zu werden, den ich liebe, und ohne den zu lieben, den ich achten muss?
Unter diesen Betrachtungen versank sie in eine tiefe Schwermut. Sie fühlte das Bedürfnis, sich selber anzugehören, dieses vornehmste und gerechte Bedürfnis, die wahre Bedingung des Fortschritts und der Entwicklung für den überlegenen Künstler. Die tätige Teilnahme, welche sie dem Grafen Albert gewidmet hatte, drückte sie wie eine Fessel. Das bittere Andenken, das von Anzoleto und Venedig ihr geblieben war, drängte sich ihr lebhaft auf in der Untätigkeit und Einsamkeit eines für ihren kraftvollen Geist zu eintönigen und zu regelmäßigen Lebens.
Sie blieb bei dem Steine stehen, den Albert ihr oft als den bezeichnet hatte, wo er durch eine seltsame Schickung sie zum ersten Male als ein Kind gesehen hatte, mit Schnüren auf dem Rücken ihrer Mutter wie das Pack eines Hausierers festgebunden, über Berg und Tal mit Singen wie das Grillchen in der Fabel schweifend, unbesorgt um den morgenden Tag und ohne Furcht vor dem dräuenden Alter und dem unerbittlichen Mangel.
O meine Mutter! dachte die junge Zingarella, sieh mich hier durch unerforschliche Fügung wieder an den Ort geführt, den du betratest, um davon nur eine dunkle Erinnerung und das Pfand einer rührenden Gastfreundschaft mit hinwegzunehmen. Du warst jung und schön und trafest ohne Zweifel viele Stätten an, wo dich die Liebe in ihre Arme genommen hätte, wo dich die Gesellschaft hätte von dem Banne freisprechen und in sich aufnehmen können, wo du dein raues, unstätes Leben hättest von dir werfen und im Schoße des Wohlseins und der Ruhe vergessen können. Aber du fühltest stets, dass dieses Wohlsein eitel Zwang und diese Ruhe tödlicher, der Künstlerseele tödlicher Überdruss sei. Du hattest recht, ich fühle es nun auch; denn da bin ich in diesem Schlosse, wo du wie in allen anderen nur eine einzige Nacht zubringen wolltest; da bin ich, vor dem Mangel, vor der Anstrengung geschützt, wohl bewirtet, zärtlich gepflegt, einen reichen Herrn zu meinen Füßen … und doch tötet mich der Zwang.
Consuelo hatte sich ermattet auf den Stein gesetzt. Sie sah den Sand des Weges an, als hätte sie darin die Spuren von den Fußtritten ihrer Mutter suchen wollen. Die Schafe hatten im Vorüberziehen an den Dornen einige Flocken Wolle hangen lassen. Das Rotbraun dieser Wolle erinnerte Consuelo lebhaft an die Naturfarbe des groben Stoffs, woraus ihrer Mutter Mantel gemacht war, dieser Mantel, der sie lange gegen Kälte und Sonne, gegen Staub und Regen beschützt hatte. Sie hatte ihn Stück für Stück von den Schultern ihrer Mutter fallen sehen.
– Und wir, sprach sie in Gedanken, wir waren auch arme, irrende Schafe und ließen die Fetzen unserer Hülle an den Dornen des Weges, aber wir nahmen überall das stolze Gefühl und den vollen Genuss unserer teuern Freiheit mit hinweg.
So träumend warf Consuelo lange Blicke über diesen Weg von gelbem Sande, der sich anmutig den Hügel hinab schlängelte und unten im Tale erweitert, sich gegen Norden wendete, einen weiten Bogen zwischen dem Grün der Fichten und dem Schwarz der Heide hindurch beschreibend.
Was gibt es Schöneres als eine Landstraße? dachte sie. Sie ist das Sinnbild und der Fingerzeig eines