Und es gibt keine tiefere Sehnsucht als diese: die Sehnsucht nach der Erfüllung. Sie kann nicht befriedigt werden…
»Wölfchen! Hallo!« Sie war weit voraufgelaufen und pflückte im Gebüsch weiße Eisbeeren, legte sie im Kreis auf den Boden und knackte sie mit dem Fuß entzwei.
»Warum tust du es?«
»Hast du keinen Sinn für Schönheit? Fühlst du nicht, daß das befriedigt, erlöst, wie von einem Druck befreit, wenn die Beere – endlich – aufknackt? – Banause!«
Die Gräser glänzten im Licht, ein dicker Käfer zog über die Chaussee, flog auf, ein Wind strich über den Weg, führte ihn mit sich fort, wollte er dorthin? – Nun, er würde auch da glücklich sein…
Eine Schafherde trappelte durch die gestoppelten Felder; sie wollten ausweichen, aber es war zu spät, der Schäferhund hatte eine lange Reihe zurechtgebellt, sie waren mitten unter ihnen, die Schafe umwogten sie, die Claire schwankte lachend in dem Meer hin und her.
»Wölfchen, wenn mir die Tieren nu fressens?«
»Ihnen nicht, Fräulein, es dürfte sich nicht lohnen.«
Endlich krochen sie heraus, staubbedeckt, lachend.
»Daß du dir da rausgefunden hast, Wölfchen!«
Sie waren auf freiem Feld, glänzend wehten grüne Gräser im Wind, die Luft war in starker Bewegung, aber das Land lag ruhig, mochte es wehen und darüber hinfahren, die Erde blieb fest.
Sie standen auf einem kleinen Hügel, das Land wellte sich weit fort, spielend riß die starke Luft an den Haaren. Dies alles umarmen können, nicht, weil es gut oder schön ist, sondern weil es da ist, weil sich die Wolkenbänke weiß und wattig lagern, weil wir leben! Kraft! Kraft der Jugend!…
»Claire?«
»Na?«
Und wurde gepackt und wie ein Wickelkind davongetragen, den Abhang herunter bis tief in die blumige Mulde.
Und wieder kamen sie nach Rheinsberg, und weil es der letzte Tag war, verschwand Wolf und kam kurz vor dem Mittagessen mit einem großen weißen Paket wieder. Oben angelangt, legte er es auf den Tisch. Die Claire zupfte vor dem Spiegel an ihrem Haar. Wandte sich um.
»Wolfgang?«
»Claire?«
»Was is’n diss?«
»Nüchs, wie du dich auszudrücken beliebst.«
»Na, haber…«
»Um allen so gearteten Debatten aus dem Wege zu gehen, mein liebes Weib, erkläre ich hiermit, daß in dem Paket mit erhobener Stimme zwar etwas darin ist, aber du dasselbe mit Bedeutung nicht vor dem Abend öffnen darfst. Um zehn geht der Zug, um dreiviertel zehn darfst du, Punkt.«
»Hm.«
Pause.
»Wolfgang?«
»Claire?«
»Sagssu mir, was da drün is? Seh mal…«
»Schweig. Ich habe gesprochen.«
»Aba, Wölfchen, ich fand, du konnst mir doch den Anfangsbuchstaben sagen und den hintern auch, ich meine den Endbuchstaben, ja?«
»Ich zertrümmere dich. Nein.«
»Nur den Anfang, tje? – Bitte, bitte!…«
»Schluß. Wir essen!«
Es gab »schöne Sachens« – »Suppens gibs«, erörterte Claire, die alles wußte, »un Hühnegens mit Gemüsen und Hops (Hops? – Obst, Wölfchen, Obst) un denn gübs… Willstu das gern wissen, Wölfchen?«
»Ja.«
»Hm, ich sag dir’s auch. Aber du mußt mir sagen, was in dem Paket…«
»Ich will’s nicht wissen.«
»Buh!«
Sie »muckschte« wie ein kleines Kind und ließ eine habsburgische Unterlippe hängen, bis das Essen kam.
»Wölfchen, eß man Suppens mitm Messer?«
»Wa–?«
»Na, ich hab mal einen gesehen, der hat mitm Messer geessen.« »Suppe?«
»Neieinn…«
Aber da kam eine alte Dame an ihrem Tisch vorübergeschlurcht, schielte krumm und murmelte etwas von »unerhört« und »Person« und so.
»Wölfchen, die meint mir. Konnste ihr nich gefordert gehabt habs? – Söh mal, ich bin doch ’ne Feine, nich wahr? oder glaubssu, ich bin eine Prostitierte? Nei–n. Ich ja nich. Ich nich. Hä?«
»Laß das Alter gewähren, mein Kind. Vielleicht hat sie nicht so hübsche Jugenderinnerungen… Wie schrieb der große Friedrich an den Rand seiner Akten? – ›Mein lieber Geheimrat‹, schrieb er, ›wir sind alt und können nicht mehr, wir wollen uns über die freuen, die noch können‹.«
Und dann aßen sie, und als es zu Ende war:
»Wölfchen, die Sonne scheint gerade so schön, wir wollen photographieren«
Sie holte den Apparat, den sie umständlich herrichtete. Eine Zeitaufnahme war beabsichtigt, unter dem Blätterdach der alten Bäume, die gesprenkeltes Licht zum Boden durchließen.
»Stell dir man hin, Wölfchen. Nun paß auf: wir machens einen langen Aufnahmen. Du mußt nu ümmessu ruhig stehen, weißtu, ganz stille, ich geh solange fort, auf daß es dir nicht lächere…«
Er stand regungslos, nur gegen die Sonnenstreifen anblinzelnd, fühlte sein Herz klopfen, der Atem ging taktmäßig ein und aus. Wie lange es dauerte? Die Claire wandelte unter den Linden, weiter hinten. Es sah aus, als hätte sie vergessen…
Ohne die Lippen weit zu öffnen: »Claire!«
Immer noch erging sie sich unter den schattigen Bäumen, aber sie antwortete: »Ja?«
»Noch lange?«
»Nein.«
Wieder Schweigen. Wieder summten die Insekten. Teller klapperten im Haus.
»…lange?«
»Wolfgang?«
»Hm?«
Und von ganz fern: »Du kannst kommen! – Ich habe gar nicht eingestellt!« Und helles Lachen.
»So ein–«
»Aber schön still hast du gehalts!«
Hoho! Wie aus einem Schallbecken platzte Lachen aus ihrem Mund, heftig, lärmend.
Aber er fing sie.
Nach dem Essen mußte die Claire schlafen gelegt werden. Sie waren im Sonnenglast hingestreckt, auf einer Wiese, über der die Luft in der Mittagswärme zittrig schwebte. Schweigen.
»Wölfchen?«
»Claire?«
»Sagssus mirs?«
»Was denn?«
»Was in den Paket…«
»Schlaf!«
Sie schnarchte, daß die Grillen vor Schreck verstummten.
»Pst!«
»Du sagst ja, ich soll. Nie nich is es richtig. Buh!«
Wieder Schweigen.
Wie im Selbstgespräch: »Ich fand, wenn du’s mir sagtest, gefiel’s mir hier besser. Wie?