Ich sah ihr fest in die Augen … einen Augenblick lang noch ließ ich sie zappeln in ihrer wahnwitzigen und ungeduldigen Wut. Immer liefen ihre flinken Augen von uns zu dem Kind und wieder zurück, sie wartete auf das Kind. Ich überlegte, wieviel Menschen auf der Welt in der Gewalt solcher da sein mochten, und wie das nun wäre, wenn wir ihr das Kind wirklich überlassen müßten, und was die andern Kinder hier auszustehen hätten … »Also – jetzt werde ich das Nötige in die Wege leiten …« Frau Adriani stand auf. Da packte ich zu.
»Das Kind wird nicht bei Ihnen bleiben«, sagte ich. »Waaas –?« brüllte sie und stemmte die Arme in die Seite. »Wir nehmen das Kind zu seiner Mutter zurück. Hier ist ein Brief von Frau Collin, hier ist ein Scheck … wir werden gleich bezahlen …« Über das Gesicht der Frau lief wie eine Welle überkochende Milch ein Schreck; man sah, wie es in ihr dachte; man hörte sie denken, sie glaubte nicht. »Das ist nicht wahr!« – »Doch, das ist wahr. Nun kommen Sie nur – setzen Sie sich wieder hin … ich werde Ihnen das alles hübsch der Reihe nach übergeben.« – »Du gehst nach oben!« herrschte sie das Kind an. »Das Kind bleibt hier«, sagte ich. »Das ist der Brief. Die Unterschrift ist beglaubigt.« Frau Adriani riß ihn mir aus der Hand.
Dann warf sie ihn der Prinzessin vor die Füße. »Das ist der Dank!« schrie sie. »Das ist der Dank! Dafür habe ich mich um diesen verwahrlosten Balg gekümmert! Dafür habe ich für sie gesorgt! Aber das … das haben Sie der Frau Collin eingeredet! Sie haben sie aufgehetzt! Sie haben mich verleumdet! Das werde ich … Raus! Sie …!« – »Wir nehmen also das Kind gleich mit. Sie werden augenblicklich die Sachen packen lassen und mir die Rechnung übergeben. Dafür bekommen Sie gegen Quittung diesen Scheck. Er ist auf Stockholm ausgestellt.« Geld! Geld war im Spiel! Die Frau blendete über und wechselte sofort die Tonlage. Sie sprach viel ruhiger, kälter – sehr fest.
»Die Rechnung kann ich Ihnen im Augenblick nicht machen. Das Kind hat mir vieles zerbrochen, da sind Schadenersatzansprüche. Selbstverständlich muß bis zum Quartalsende gezahlt werden – das ist so ausgemacht. Selbstverständlich. Und dann muß ich erst zusammenstellen lassen, was hier alles im Haus durch die Schuld dieses Mädchens entzweigegangen ist. Das dauert mindestens eine Woche.« – »Sie schreiben mir jetzt eine Quittung über den Scheck aus; er deckt die Kosten bis zum Vierteljahrsschluß, dann bleiben noch zweiundfünfzig Kronen übrig … über den Rest werden Sie sich mit Frau Collin einigen. Das Kind kommt mit uns mit.« Das Kind hatte aufgehört zu weinen, es sah fortwährend von einem zum andern und ließ die Prinzessin keinen Augenblick los, keinen Augenblick.
Frau Adriani sah auf den Scheck, den ich in der Hand hielt. »Mit Geld allein ist die Sache nicht abgetan!« sagte sie. »Immerhin … Warten Sie.« Sie ging. Die Prinzessin nickte befriedigt. Die Frau kam wieder.
»Sie hat einen Schrank ruiniert … sie hat ein Fenster kaputtgemacht; das Fenster war von innen abgeriegelt, sie muß da etwas hinausgeworfen haben … das macht … ich habe auch noch eine Wäscherechnung …« – »Nun ist es genug«, sagte ich. »Sie bekommen nun gar nichts, und dann nehmen wir das Kind mit, auch ohne seine Sachen – oder aber Sie schreiben mir eine Quittung über den Scheck aus, und dann liefern Sie uns alle Sachen aus, die dem Kind gehören,« – Frau Adriani machte eine Bewegung –, »alle Sachen, und dann bekommen Sie Ihr Geld. Nun?«
Sie ringelte sich; man fühlte, wie es in ihr gärte und wallte … aber da war der Scheck! Da war der Scheck! Psychologie ist manchmal sehr einfach. Nein, so einfach war sie doch nicht. Wieviel Stimmlagen hatte diese Frau! Nun legte sie die letzte Platte auf.
Sie begann zu weinen. Die Prinzessin starrte sie an, als hätte sie ein exotisches Fabeltier vor sich.
Frau Adriani weinte. Es klang, wie wenn jemand auf einer kleinen Kindertrompete blies, es war mehr eine Art Quäken, was da herauskam, ganz leise, bei völlig trockenen Augen – so machen die kleinen Gummischweinchen, wenn sie die Luft von sich geben und verrunzelnd zusammenfallen. Großaufnahme: »Ich bin eine Frau, die sich ihr Leben erarbeitet hat«, sang die Kindertrompete. »Ich habe viele Reisen gemacht und mir Bildung erworben. Ich habe einen kranken Mann; ich habe niemanden, der mir hilft. Ich stehe diesem Hause seit acht Jahren vor – ich bin den Kindern wie eine Mutter, wie eine Mutter … das Kind ist mir ans Herz gewachsen … ich habe für dieses Kind … Scheißbande!« brüllte sie plötzlich.
Es war wie eine Erlösung. Die Vorstellung des Stücks »Das gerührte Mutterherz« war so dumm gewesen, es waren die gangbaren Mittel einer Provinz-Hysterika … daß wir wie von einem Alpdruck befreit waren, als sie mit dem Kraftwort abschloß und in die Realität zurückkehrte, in ihre Wirklichkeit. »So«, sagte ich. »Nun gehn wir und packen ein!« Ihr letzter Widerstand flackerte auf. »Ich packe nicht. Gehn Sie selber nach oben und suchen Sie sich ihre Lumpen zusammen. Liegt wahrscheinlich alles durcheinander. Ich suche nicht.« Sie knallte auf einen Stuhl. Und sprang gleich wieder auf. »Natürlich lasse ich Sie nicht allein hinaufgehn! Senta! Anna!« Es erschienen zwei Mädchen. Sie sagte zu ihnen etwas auf schwedisch, das wir nicht verstanden. Wir gingen hinauf.
Aus allen Türen sahen Mädchenköpfe, verängstigte, neugierige, aufgeregte Gesichter. Keines sprach; ein Mädchen knickste verlegen, dann andre. Wir standen oben im Schlafzimmer Adas; die vier kleinen Mädchen, die darin waren, drückten sich scheu in einer Ecke zusammen. Wir öffneten den Schrank, und die Prinzessin fragte nach einem Koffer. Ja, das Kind hatte einen mitgebracht, aber der stände auf dem Boden. »Wollen Sie ihn bitte …« Ein Mädchen ging. Die Prinzessin räumte den Schrank aus. »Das? Das auch?« Mit einem Schwung öffnete sich die Tür, Frau Adriani preschte ins Zimmer. »Ich will genau sehn, was sie mitnimmt! Am Ende eignen Sie sich noch fremde Sachen an!« Eine schlechte Verliererin war sie – wer bleibt anständig, wenn er seine Partie verloren hat? »Sie können alles genau sehn, und im übrigen – Holla!« Sie war auf das Kind zugegangen, das sich duckte. Ich trat mit einem raschen Satz dazwischen. Wir sahen uns einen Augenblick an, die Frau Adriani und ich; in diesem Blick war so viel körperliche Intimität, daß mir graute. Dieser Kampf war der Gegenpol der Liebe – wie jeder Kampf. Und in diesem Blick der Augen öffnete sich mir eine tiefe Schlucht: diese Frau war niemals befriedigt worden, niemals. Durch mein Gehirn flitzte jenes zynische Rezept:
Rp.
Penis normalis
dosim
Repetatur!
Aber das allein konnte es nicht sein. Hier tobte der Urdrang der Menschheit: der nach Macht, Macht, Macht. Und nichts trifft solch ein Wesen mehr als ein unerwarteter Aufstand. Dann stürzt eine Welt ein. Spartakus … So viele Kinder litten hier. Ich hätte geschlagen. Sie wich zurück.
Das Mädchen kam mit dem Koffer; wir packten, schweigend. Einmal riß die Frau ein Hemdchen an sich und warf es wieder hin. Das Kind hielt die Hand der Prinzessin. Die Mädchen in ihrer Ecke atmeten kaum. Frau Adriani sah zu ihnen hinüber und ruckte mit dem Kopf, da gingen sie schlurfend zur Tür hinaus. Der Koffer wurde geschlossen. Wir trugen ihn hinunter. Ein Mädchen wollte uns helfen – Frau Adriani verbot es mit einer Handbewegung. Der Koffer war nicht schwer. Das Kind ging eilig mit; es weinte nicht mehr. Ich hörte es einmal tief aufatmen.
»Die Quittung?« Frau Adriani ging auf ihren Tisch zu, schrieb etwas auf ein Blatt und reichte es mir, wie mit der Feuerzange. Um ein Haar hätte sie mir leid getan, aber ich wußte, wie gefährlich dieses Mitleid war und wie verschwendet. Es hätte ihr nicht einmal gut getan, denn von diesem Seelenhonorar kauft sie sich neue Kulissen, und alles fängt wieder von vorn an. Ich gab ihr den Scheck. Ich sah auf ihr Gesicht. Der Vorhang war heruntergelassen – jetzt wurde nicht mehr gespielt. Das Stück war aus.
Langsam gingen wir aus dem Hause, in dem das Kind so viel gelitten hatte.
Keiner von uns sah mehr zurück. Die Haustür wurde geschlossen.
Der letzte Urlaubstag …
Ich bin schon für die Reise angezogen, zwischen mir und dem Mälarsee ist eine leise Fremdheit, wir sagen wieder Sie zueinander.
Die