Kapitalismus, was tun?. Sahra Wagenknecht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sahra Wagenknecht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная прикладная и научно-популярная литература
Год издания: 0
isbn: 9783360500397
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werden.

      Graue Haare dürften den verantwortlichen Managern dennoch nicht wachsen, denn die Folgen baden andere aus. Keiner weiß, wie viele der 37 700 im letzten Jahr zusammengebrochenen Firmen noch bestehen und wie viele der dort vernichteten Arbeitsplätze noch existieren könnten, wenn irgendeine Bank bereit gewesen wäre, jenen Überbrückungskredit zu gewähren, an dem oft die Existenz hing. Und lange bevor Ex-Deutsche-Bank-Chef Breuer in die Verlegenheit kommen könnte, seine Zweit- oder Drittvilla zu veräußern, wird Eichel dem noblen Finanzhaus noch jeden faulen Kredit mit Steuergeld abkaufen. Die beabsichtigte Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens mit der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau zur Verbriefung vergebener Kredite dürfte – trotz gegenteiliger Beteuerungen – der erste Schritt in diese Richtung sein.

      26. April 2003

      Hilfstruppen

      Auf die Opposition ist Verlass. Passend in die Vorbereitungsphase des SPD-Sonderparteitages hinein offerierten die Präsidien von CDU und CSU am letzten Wochenende ein gemeinsames Sozialreformpapier. Der Maßnahmekatalog, den es enthält, ist weder aufregend noch neu und lohnt die Lektüre kaum. Der tiefere Sinn des Papiers liegt ohnehin nicht in den Greueltaten, die es vorschlägt, sondern in der Generalnachricht an Schröders innerparteiliche Kritiker und an die Gewerkschaften: Leute, habt acht, es geht auch noch schlimmer!

      Den Reiz dieser Strategie kannte bereits Ex-BDI-Chef Henkel, der sie einst Schröders Vorgänger angeboten hatte. Freimütig berichtet er in seiner Autobiographie über seinen Antrittsbesuch bei Helmut Kohl folgendes: »Ich wollte ihm [Kohl] erklären, dass ich immer dann, wenn er ›hundert‹ liefern könne, ›hundertfünfzig‹ fordern würde, damit er bei jenen, die nur ›fünfzig‹ anbieten, sagen könne: ›Ich habe mich ins Mittel gelegt, dies ist der Kanzlerkompromiss.‹ Damit wollte ich ihm helfen, seine Spielräume zu erweitern, und hoffte auf einen konstruktiven Gedankenaustausch.« Allerdings habe, wie Henkel bekennt, das Zusammenspiel in dieser Frage mit Kohl nicht gut funktioniert. Schröder dagegen habe den Wert solcher Kooperation sofort begriffen.

      Die freundliche Morgengabe Stoiberscher Provenienz dürfte dem Kanzler überaus gelegen kommen. Immerhin hat selbst DGB-Chef Sommer bisher keine Neigung gezeigt, mit Blick auf den »Agenda 2010« genannten finalen Enthauptungsschlag gegen jegliche Sozialität im kapitalistischen Deutschland ähnlich zu Kreuze zu kriechen wie die Gewerkschaftsspitzen es im Falle Rentenreform und Hartz-Konzept getan hatten. Irgendwo scheint es doch noch Grenzen zu geben, und ob soziales Gewissen oder purer Selbsterhaltungstrieb diese diktieren, ist nicht entscheidend. Einheitlich freilich agiert der DGB in dieser Frage schon nicht mehr; IG BCE Chef Schmoldt attackiert in bewährter Rollenverteilung die noch kampfbereiten Einzelgewerkschaften Verdi und IG Metall. Auch innerhalb der SPD ist die Rettet-unsern-Kanzler-Kampagne erfolgreich angelaufen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich auf diesem Wege der Umfall auf ganzer Linie vorbereitet.

      Während Henkels Motivlage leicht durchschaubar war, mag es einem naiven Beobachter seltsam erscheinen, weshalb die Union sich derart rührig um die Stabilisierung der Schröderschen Kanzlerschaft bemüht. Genau besehen erweist sie sich dadurch jedoch nur einmal mehr als guter Seismograph der Wünsche der herrschenden Klasse, die deutlich signalisiert hat, dass sie ausschließlich die SPD zur Umsetzung des von ihr geforderten Brachialkurses als machtpolitisch befähigt erachtet. Mag sein, mancher Konzernboss würde die asoziale Talfahrt gern noch ein wenig mehr beschleunigen, aber in der Richtung ist man sich einig, und spätestens seit dem 14. März nimmt man Schröder auch wieder ab, dass er diesen Kurs kompromisslos gegen die dem Profitkalkül weniger zugeneigten Genossen seiner Partei durchzusetzen gewillt ist. Das Handelsblatt registriert folgerichtig seit knapp zwei Monaten wieder abrupt steigende Sympathiewerte Schröders bei Deutschlands Managerelite, was möglicherweise dazu beiträgt, dass ihn die nicht minder abrupt fallenden SPD-Umfragewerte beim Normalvolk nur begrenzt beunruhigen.

      Weil Sozialdemokraten indes traditionell schlimme Untaten nur dann mit gutem Gewissen billigen, wenn man ihnen einredet, sie hätten dadurch noch schlimmere verhindert, besteht die Tagesaufgabe darin, Schröders asozialen Super-Gau mit dem Nimbus des »kleineren Übels« zu versehen. Also wird seit einigen Wochen die Mannschaft der 150-Prozent-Forderer in Stellung gebracht: Zu ihr zählen die Verbände-Vertreter von BDA und BDI (Rogowski etwa mit seiner Forderung, das deutsche Mitbestimmungsmodell zu beseitigen), außerdem der Sachverständigenrat, der in seinem Frühjahrsgutachten die Schröder-Agenda zwar lobt, aber als unzureichend kritisiert, und jetzt eben auch CDU/CSU. Nutzbar (und daher in der Wirtschaftspresse weidlich publiziert) ist auch ein neueres Dossier des IWF, in dem Ökonomen ihren Namen für die These hergeben, das US-Modell würde Europa ein um etwa fünf Prozent höheres Wachstum bringen; entscheidend wäre dabei, den Kündigungsschutz auf US-Level zurückzuschneiden und gleiches mit dem Arbeitslosengeld zu tun.

      Das Perfide an dem Schmierentheater ist, dass im Grunde jeder weiß, dass die Argumente verlogen sind, aber selbst viele der Kritiker nur von »falschen Ansätzen« statt von Interessenpolitik reden. Ein von Sommer jetzt vorgestelltes Alternativpapier zur Agenda 2010 wärmt – neben vernünftigen Forderungen – auch die Debatte um eine Mehrwertsteuererhöhung zur Senkung der Sozialabgaben wieder auf. Diese Forderung ist zum einen kaum weniger unsozial als Schröders Streichorgien, denn gerade Verbrauchssteuern treffen diejenigen am härtesten, die wenig verdienen. Zum anderen wird damit eine der Kernlügen der Kapitallobby – steigende Sozialabgaben verursachten Arbeitslosigkeit (während es sich tatsächlich gerade anders herum verhält) – indirekt akzeptiert. Dass trotz Krise und steigender »Lohnnebenkosten« immerhin zwölf Dax-Unternehmen 2003 gegenüber 2002 ihre Dividenden erhöhen konnten – nicht wenige unter ihnen, die für dieses Jahr eine neue Welle von Stellenstreichungen angekündigt haben –, wird in solchen Diskursen eher selten erwähnt. Auf die Opposition ist Verlass? Richtig, es gab eine solche bisher auch links von der SPD, eine, die sich immerhin noch traute, Umverteilung von oben nach unten zu fordern (auch wenn sie regierend oft genug das Gegenteil praktiziert), eine, die eine sozialistische Alternative zur Barbarei kapitalistischer Profitmaximierung zumindest noch in ihrem gültigen Programm fordert (auch wenn wohl gerade deshalb mancher seit Jahren »programmatische Erneuerung« verlangt). Auch diese Opposition geht Schröder derzeit bestens zur Hand, indem sie sich von jenem Flügel selbst- und medienernannter Reformer, der bereits den Verlust ihrer parlamentarischen Bundespräsenz hauptsächlich zu verantworten hat, einen selbstzerstörerischen Chaos-Kurs nebst Rückwendung hinter Gera aufzwingen lässt, der sie zuverlässig in den kommenden Wochen – wenn nicht endgültig! – zur Handlungsunfähigkeit und Selbstaufgabe als linke Oppositionspartei verdammt.

      10. Mai 2003

      Überraschungen

      Das einzig wirklich erstaunliche an dem Vorgang ist das immer wieder ehrlich scheinende Erstaunen der Hauptdarsteller. »Das hat mich sehr überrascht.« – kommentierte Wolfgang Wiegard, Ökonomieprofessor und staatlich gekürter »Wirtschaftsweiser«, den erneuten Rückgang des deutschen Bruttoinlandsprodukts im ersten Quartal 2003. Die Wirtschaftsleistung befindet sich jetzt erneut zwei Quartale in Folge auf Schrumpfkurs, 0,5 Prozent liegt sie unter dem Vorjahreswert, eine halbe Millionen Menschen zusätzlich haben sich ins Heer der registrierten Arbeitslosen eingereiht. Und das, obwohl Schröder den Vorschlägen des weisen Professor Wiegard zur »Verbesserung der Angebotsbedingungen« treu gefolgt war: Das soziale Netz wurde kräftig ausgedünnt, die »Lohnkosten« dank Hartz erneut gesenkt, das Großkapital mit Steuerforderungen nahezu nicht mehr belästigt und die Lebensbedingungen Arbeitsloser weiter verschlechtert.

      »Das hat mich sehr überrascht« stand auch Zauberlehrling Eichel aufs Gesicht geschrieben, als die Steuerschätzer vor wenigen Tagen in gewohntem Ritual ihre vorangegangene Prognose dem Altpapierrecycling überantworteten: Um mindestens 8,7 Milliarden Euro niedriger als noch im November 2002 vorhergesagt werden die Steuereinnahmen in diesem Jahr ausfallen – wenn die Wirtschaft um 0,75 Prozent wächst, woran außer Eichel und Clement keiner mehr glaubt. Es wird also voraussichtlich noch ärger kommen, und als wollte er sicherstellen, dass auch die von den meisten Wirtschaftsinstituten derzeit noch prognostizierten 0,5 Prozent Wachstum unterboten werden, hat Eichel bereits ein »Leistungsmoratorium« angekündigt und gefordert, »alle Ausgaben« auf den Prüfstand zu stellen. Fast alle zumindest, denn 8,3 Milliarden Euro zur Anschaffung von 60 Militärtransportern