Kapitalismus, was tun?. Sahra Wagenknecht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sahra Wagenknecht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная прикладная и научно-популярная литература
Год издания: 0
isbn: 9783360500397
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liegt einfach darin, dass kapitalistische Märkte immer nach dem Prinzip »Wer hat, dem wird gegeben« funktionieren. Ein guter Rating-Status ist bares Geld wert; sein Verlust bedeutet steigende Zinskosten. Für Thyssen-Krupp liegt die künftige Mehrbelastung nach eigenen Angaben bei zwanzig Millionen Euro jährlich. Um sich ein Bild zu machen: Die Zinsaufschläge von Junk-Bonds mit Ratingnoten Doppel-B (dies ist der Wert, der Thyssen-Krupp jetzt verpasst wurde) lagen Ende Oktober 2002 in den USA bei gut 10,4 Prozent; Firmen am unteren Rand der sogenannten »Investitionsklasse« müssen dagegen nur 7,4 Prozent berappen; »erstklassige Schuldner«, zu denen derzeit vor allem US-Rüstungsschmieden und Ölkonzerne gehören, zahlen unter fünf Prozent.

      Die Herabstufung von Thyssen-Krupp durch S & P passt freilich in einem Punkt nicht ganz ins übliche Bild. Der Stahlriese hat seine Schulden in den letzten Jahren nicht aus-, sondern abgebaut. Stand der Konzern unmittelbar nach der Fusion mit 8,3 Milliarden Euro in der Kreide, sind davon heute nur noch 4,9 Milliarden übrig. Auch die Profite können sich sehen lassen. Der letzte Quartalsgewinn lag bei 141 Millionen Euro; die interne Kapitalverzinsung beträgt sieben Prozent. Konzernchef Schulz entrüstet sich denn auch: »Angesichts der Tatsache, dass wir unsere Verschuldung innerhalb von zwei Jahren um fast vier Milliarden Euro abgebaut haben, verstehen wir den Schritt überhaupt nicht.« Aufhänger für die Herabstufung ist eine mögliche Unterdeckung bei den Pensionsverpflichtungen von Thyssen-Krupp. Anders als bei seinem letzten Rating vor zwei Jahren behandelte S & P die Pensionsverpflichtungen des Konzerns diesmal wie normales Fremdkapital. Die künftigen Rentenansprüche der Mitarbeiter in Höhe von 7,1 Milliarden Euro wurden somit den Finanzschulden einfach hinzugerechnet, was die Relation zwischen Schulden und Eigenkapital drastisch verschlechterte. Nun muss man wissen, dass ein Spezifikum des deutschen Betriebsrentensystems gegenüber dem amerikanischen gerade darin liegt, dass viele Firmen Einzahlungen ihrer Mitarbeiter bis zur Fälligkeit als billiges Quasi-Eigenkapital nutzen und die Pensionen anschließend aus den laufenden Zahlungsüberschüssen begleichen. Im Gegensatz dazu ist auch die betriebliche Altersvorsorge in den USA in Pensionsfonds ausgelagert, die das Geld in Aktien – bevorzugt natürlich des eigenen Unternehmens – investieren. In letzterem Fall schlägt es auch formal als Eigenkapital zu Buche. In beiden Fällen hängt die Alterssicherung der Mitarbeiter am Zukunfts-Profit des Konzerns; der Unterschied ist, dass die betrieblichen Zahlungsüberschüsse in der Regel weniger heftig schwanken als der Aktienkurs, das hiesige System deshalb nicht ganz so krisenanfällig (und krisenverstärkend!) ist. Die US-Pensionsfonds weisen dank Börsencrash derzeit eine Deckungslücke von zwanzig Prozent aus.

      Die Entscheidung im Falle Thyssen-Krupp ist somit keineswegs nur eine Entscheidung im Fall Thyssen-Krupp. Die 24 Industrie- und Dienstleistungsunternehmen im Dax haben Pensionsverpflichtungen im Wert von insgesamt 150 Milliarden Euro. Erfasst man diese künftig einfach als Schulden, verschlechtert sich die für den Rating-Status entscheidende Relation von Netto-Schulden zu Eigenkapital im Schnitt von eins auf 1.3. Besonders stark betroffen wären RWE, Lufthansa, Deutsche Post und MAN, von denen einige in der Tat bereits auf der S & P-Beobachtungsliste stehen.

      Betriebswirtschaftlich spricht für die neue Sichtweise wenig. Dass Rating-Agenturen sich allerdings durchaus nicht nur in den höheren Sphären der Wirtschaftswissenschaft bewegen, sondern zuweilen sehr irdischen Interessen folgen, zeigte schon die Rücknahme der Bonitätsbewertung einer iranischen Staatsanleihe durch Moody’s im Frühsommer letzten Jahres, nachdem das Weiße Haus gegen die Bewertung interveniert hatte. Die vor wenigen Jahren unter Linken verbreitete These, die Globalisierung schaffe ein universell vereintes und jedenfalls nicht mehr national bzw. regional spezifische Interessen verfolgendes Weltkapital wird angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen um den Irak-Krieg wohl Anhänger verloren haben. Der alte Lenin gilt aber nicht nur am Golf: In der Krise wird Kapital besonders kriegshungrig; und auch Wirtschaftskrieg ist eine Form von Krieg.

      1. März 2003

      Thatcher soft

      Zu einem Betrug gehören immer mindestens zwei: einer, der die Idee hat, und einer, der darauf reinfällt. Ein Betrüger wiederum, dem es gelingt, mit ein und derselben Masche ein und dieselbe Person immer wieder aufs Neue zu leimen, hat gute Aussichten, als Angeklagter in einem Strafprozess mildernde Umstände zugebilligt zu bekommen. Immerhin hat’s der Betrogene ihm dann ausgesprochen leicht gemacht. So gesehen ist Schröder ein Betrüger von der minderschweren Sorte. Die Masche ist immer wieder die gleiche, die Adressaten überwiegend auch, und sie spielen das Spiel trotzdem unverdrossen mit.

      Die Zustimmung zum Einstieg in den Ausstieg aus der paritätisch beitragsfinanzierten Rente ließen sich die Gewerkschaften 2001 abkaufen: mit Riesters Versprechen eines dubiosen »Eckrentenniveaus« von 67 Prozent im Jahr 2030. Abgesehen davon, dass die Zahl von Beginn an auf einem Rechenfehler beruhte – mit Rürup hat sie sich nun ganz erledigt und kein Mensch redet mehr davon. Der leise Tod der Umlagerente aber ist eingeläutet und kaum mehr zu stoppen. Dumm gelaufen, möchte man meinen, – aber offenbar noch längst nicht dumm genug, als dass Wiederholung ausgeschlossen wäre.

      Kurz nach den Wahlen 2002 passierte das Hartz-Konzept den Bundestag, gleichfalls mit dem stolzen Segen der Gewerkschaftsspitzen, diesmal erkauft mit dem Versprechen, die Arbeitslosenhilfe nicht abzusenken und die soziale Stellung der Leiharbeiter zu verbessern. Von letzterem ist längst keine Rede mehr, und inzwischen kann auch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum sogenannten Arbeitslosengeld II als beschlossene Sache gelten. Selbiges Arbeitslosengeld II wird allenfalls noch zehn Prozent über Sozialhilfeniveau liegen und sich ausschließlich an sogenannter »Bedürftigkeit« orientieren. Für mindestens ein Drittel der heute 1,66 Millionen Arbeitslosenhilfebezieher steht in Zukunft in jedem Fall Sozialhilfe pur an. Denn wer länger als vier Jahre arbeitslos ist, hat offenbar nach Meinung führender Sozialdemokraten seine Unverwertbarkeit im kapitalistischen Reproduktionsprozess so hinreichend unter Beweis gestellt, dass er den Arbeitsämtern nicht länger auf die Nerven gehen sollte und deshalb aufs Sozialamt abgeschoben wird. Die Zahlen zur Einsparsumme, die dieser neue brachiale Schnitt ins soziale Netz bringt, schwanken. Als Schätzung am unteren Rand kursiert ein Betrag von drei Milliarden Euro jährlich. Rechnen wir durch: Eine Kürzung um drei Milliarden ergibt bei 1,66 Millionen Betroffenen nach den kalten Regeln der Mathematik ein durchschnittliches Minus je Frau oder Mann von 1807 Euro pro Jahr. Die grausamen individuellen Folgen dieser Maßnahme lassen sich ahnen, wenn man bedenkt, dass es hier um Menschen geht, die im Schnitt kaum mehr als 600 Euro im Monat erhalten. Also wieder: dumm gelaufen.

      Und es läuft immer dümmer. Inzwischen plant Schröder, die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld auf 18 oder gar 12 Monate zu reduzieren. Dies würde den Kreis der Menschen, die künftig auf besagtes Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe angewiesen sind, auf einen Schlag drastisch erhöhen und zugleich den sozialen Abstieg bei jener enorm beschleunigen, die als sogenannte »Nichtbedürftige« – weil beispielsweise der Ehepartner noch eine mittelmäßig bezahlte Arbeit hat – fürs erste überhaupt nichts mehr bekämen. Dass all diese Menschen sich dann noch viel verzweifelter als heute schon um neue Jobs bemühen werden, selbst um schlechtbezahlte und unsichere, ist nicht ein Nebeneffekt, sondern der eigentliche Sinn des Ganzen. Hans-Werner Sinn, der unermüdliche Lobbyist der Profithaie und in dieser Eigenschaft Präsident des Ifo-Instituts, nahm kein Blatt vor den Mund, als er Schröder vorab das Gerüst zur gestrigen Regierungserklärung lieferte: »Ich erwarte Vorschläge für Reformen, die den Marktkräften zum Durchbruch verhelfen. Am wichtigsten ist die Reform von Arbeitslosen- und Sozialhilfe … Die effektive Lohnuntergrenze, die in diesen Hilfen angelegt ist, muss fallen.«

      Dass die Konzernlobby immer tiefere und brutalere soziale Einschnitte mit derartigem Nachdruck fordert, rührt also mitnichten aus ihrer Sorge um die Staatsfinanzen, zu denen sie als Steuerzahler eh kaum noch beiträgt. Es rührt zum einen aus ihrem Interesse, die Beitragssätze zur Sozialversicherung, die wie die Nettolöhne auf der Sollseite der Unternehmensbilanz zu Buche schlagen, nach unten zu drücken. Vor allem aber rühren die Forderungen aus ihrem Wunsch nach genereller Absenkung des Lohnniveaus und Etablierung billigster Hire-and-Fire-Jobs in beliebiger Zahl. Tarifverträge muss man dann nicht mehr infrage stellen. Sie erledigen sich.

      Schröders diesbezügliche Pläne, verbunden mit der Aufweichung des Kündigungsschutzes und der geplanten Privatisierung von Leistungen im Gesundheitssystem, stellen einen derart rigiden Schnitt in das bisherige Gefüge des