Dick lächelte schmal. »Und genau so wollen wir ihn haben.«
Elsa deutete nach vorne, denn dort tat sich nun etwas. Dick erkannte Sarah, die zu Lancasters Füßen reglos auf dem Boden lag. Sie schien noch immer ohne Bewusstsein. Der mörderische Arzt hatte seinen Talisman erhoben, kupferrotes Licht strömte daraus hervor und in einem weiten Bogen mitten in ein Moorloch. Ein unheimliches Brodeln und Zischen entstand in der schwarzen, zähflüssigen Masse. Es sah aus, als ob das Moor kochte. Dann erhob sich langsam eine Gestalt aus dem Morast. Dick hatte die Moorhexe noch nie gesehen. Für ein paar Sekunden starrte er fasziniert auf dieses Wesen, das es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Er sah, wie die Erscheinung ganz aus dem Moor aufstieg und dann langsam auf ihren Beschwörer zuschwebte.
»Ich bringe dir ein Opfer«, hörte er Lancaster sagen. »Sie soll ihrem Bruder Gesellschaft leisten. Nimm sie mit dir!«
»Was du befiehlst, soll geschehen«, erwiderte die Moorhexe emotionslos. Sie schwebte auf Sarah zu, der ihre Ohnmacht gnädig diesen schrecklichen Anblick ersparte. Noch ehe sie ihr Opfer aber mitnehmen konnte, änderte sich plötzlich alles …
*
Als Dick sah, was Lancaster vorhatte, zögerte er keine Sekunde länger. Er verließ seine Deckung, hob sein Gewehr und schrie: »Lassen Sie den Talisman los, Lancaster! Und gehen Sie von Miss Sarah weg, aber ganz langsam!«
Der mörderische Arzt hatte nicht mit einer solchen Unterbrechung gerechnet. Er hatte sich im Gegenteil bereits fast am Ziel seiner Wünsche gewähnt. Dass er nun jäh aus dieser Illusion gerissen wurde, ließ ihn aggressiv und brutal reagieren. Er wirbelte herum, sprach noch in der Bewegung einige unverständliche Worte und schon im nächsten Moment schossen feurige Kugeln auf Dick zu. Er konnte sich eben noch ducken. Die übernatürlichen Geschosse knallten in den hohlen Stamm der toten Mooreiche und explodierten darin richtiggehend. Eine Stichflamme schoss in den Nachthimmel, dann fing der Baum an, lichterloh zu brennen. Das trockene Holz wurde innerhalb von Sekunden zu einem Raub der Flammen. Das Feuer erhellte die unheimliche Szene.
Elsa sah, dass die Moorhexe reglos über dem Boden schwebte. Sie war durchsichtig, man konnte hinter ihr die Umgebung erkennen. Ihr Gesicht war verschwommen, doch Elsa meinte, dass ihre Vorfahrin sie ansah. Und ihr Blick war unendlich traurig.
Während Dick anlegte und Lancaster in die Schulter traf, eilte Elsa auf den mörderischen Arzt zu, der schreiend zu Boden gegangen war. Der Talisman rutschte ihm aus der Hand und landete auf einem Grasbüschel, das außerhalb seiner Reichweite wuchs.
Lancaster wälzte sich stöhnend und jammernd auf dem Boden, er schrie und verfluchte Dick, doch er war in seinem Zustand hilflos. Elsa huschte an ihm vorbei, achtete darauf, dem brennenden Baum nicht zu nah zu kommen, dann packte sie beherzt zu und zog Sarah von Lancaster fort. Sie musste sich nicht weiter um die junge Ärztin kümmern, das übernahm der Verwalter.
Elsa hatte gesehen, wohin der Talisman gefallen war. Aber auch Lancaster wollte ihn unbedingt haben. Er wusste ganz genau, was davon abhing. Verlor er, dann war sein Schicksal besiegelt. Und er hatte nicht all diese Verbrechen begangen, um nun selbst zum Opfer der Moorhexe zu werden!
Trotz der brüllenden Schmerzen in seiner Schulter kam er auf die Füße und torkelte auf die Stelle zu, wo das Amulett lag. Gelegen hatte. Denn im Schein des Feuers erkannte der mörderische Arzt nun deutlich, dass es fort war.
Mit einem wütenden Schrei fuhr er herum und sah sich im nächsten Moment Elsa gegenüber. Sie stand ganz ruhig da, Tränen liefen über ihre Wangen und sie sagte: »Das ist für David!« Dann zerbrach sie den Talisman auf einem Stein.
Lancaster war einen Moment lang fassungslos. Er starrte auf die Bruchstücke, die jeden Glanz verloren hatten. Und dann wollte er sich auf Elsa stürzen, aber dazu kam es nicht mehr, denn plötzlich war alles anders.
Der mörderische Arzt spürte eine intensive Kälte, die sich rasch verstärkte und ihn einzuhüllen schien. Sie nahm die Hitze des nahen Feuers weg, sie lähmte seinen Körper und seine Gedanken. Der Schmerz der Schussverletzung ebbte ab. Lancaster spürte, wie sein Herzschlag sich verlangsamte. Er konnte sich nicht mehr rühren. Mit weit aufgerissenen Augen stand er da und glich einer Salzsäule.
Die Moorhexe schwebte langsam und scheinbar genüsslich auf ihn zu. Dick und Sarah, die mittlerweile wieder bei Bewusstsein war, beobachteten das unheimliche Schauspiel fasziniert. Elsa stand der Erscheinung direkt gegenüber. Sie empfand weniger Angst als die Gewissheit, das Richtige getan zu haben. Und das bestätigten auch die Worte von Heather Jones.
»Elsa, du hast mich befreit. Ich danke dir. Nun kann mein Geist endlich den ewigen Frieden finden. Vor langer Zeit wirkte ich als weise Frau. Die Menschen kamen zu mir und ich half ihnen. Aber der Rat der Insel war gegen mich. Ihr Vorsitzender war Reginald Tumbrill. Er war mein Richter und Henker und verurteilte so eine unschuldige Seele. Schlimmer aber waren die Vorfahren dieses Mannes.« Sie deutete auf James Lancaster, der noch immer reglos vor ihr stand. »Sie schmiedeten den bösen Talisman, der meine Seele ins Moor bannte. Ich war verurteilt, für alle Zeiten ruhelos zu wandern. Sie waren verderbte Seelen, die ihre Freude an meinem Schmerz hatten. Der Schlimmste aber ist er, denn er machte mich zum Werkzeug seiner Mordlust. Jetzt bin ich frei und ich werde meine Rache nehmen!«
Was im nächsten Moment geschah, erschien den Zeugen später wie ein böser Albtraum. Gedankenschnell schloss Heather Jones ihre Arme um den Paralysierten. Mit einem Ruck hob sie ihn vom Boden auf und schwebte dann auf das Moorloch zu. James Lancasters verzerrte Miene war von dem Grauen gezeichnet, das ihn erfüllte. Sein Mund öffnete sich zum stummen Schrei, doch kein Laut drang daraus hervor. Und dann versank er in dem schwimmenden Land, das er Sarah als Grab zugedacht hatte. Der träge Morast schloss sich über seinem letzten Opfer, als das Feuer, das die Mooreiche zu Asche verbrannt hatte, erlosch …
*
Annabell stellte ein Tablett mit einer deftigen Hühnerbrühe vor Sarah auf den Tisch und ermunterte sie, zu essen.
»Das bringt dich wieder auf die Beine, Kindchen. Ruhe und gutes Essen sind die besten Heilmittel.«
Die junge Ärztin lächelte schmal. »Danke, Annabell.«
Nachdem die Köchin die Terrasse hinter ›Ivy-House‹ wieder verlassen hatte, lauschte Sarah eine Weile versunken auf das Gezwitscher der Vögel in den hohen alten Bäumen. Es war beruhigend und wirkte wie Balsam auf ihre Seele.
Ein Monat war nun vergangen seit jener Vollmondnacht, die Sarah in jedem ihrer Albträume wieder und wieder durchlitt.
Die junge Frau war schmal geworden, ihr ebenmäßiges Gesicht zeigte eine auffallende Blässe. Was geschehen war, ließ sich nicht einfach so vergessen. Die Schatten des Schreckens, den Sarah durchlitten hatte, fielen weiter auf ihr Leben.
Das Wetter hatte sich gebessert, die letzten Sommertage waren auf Harper-Island angenehm warm und sonnig. Während Sarah ihre Brühe zu sich nahm, beobachtete sie die Insekten, die Astern und späte Rosen in den Borders besuchten. Die Ruhe und die vertraute Umgebung halfen ihr dabei, ihr inneres Gleichgewicht wieder zu finden. Doch das war nicht alles.
Nachdem James Lancaster zum Opfer jener Erscheinung geworden war, die er selbst heraufbeschworen hatte, waren Elsa und Dick Jones nicht mehr von Sarahs Seite gewichen. Sie hatte erkannt, wie falsch sie die Geschwister eingeschätzt hatte.
Elsa kam nun öfter nach ›Ivy-House‹ und leistete Sarah Gesellschaft. Sie hatte erfahren, dass die junge Frau ihre Kindheit bei Verwandten in London verbracht hatte. Ein hellsichtiges Kind war wohl auf Harper-Island nicht gern gesehen gewesen. Als Elsa dann erwachsen war, hatte sie sich entschlossen, auf die Kanalinsel zurückzukehren, denn sie wollte in der Nähe ihres Bruders leben. Doch das war erst nach dem Tod des Vaters möglich geworden, der seine ablehnende Haltung Elsa gegenüber zeitlebens nicht hatte ablegen können.
Sarah konnte das nicht begreifen. Je besser sie Elsa kennen lernte, desto liebenswerter fand sie die junge Frau, die bald zu einer echten Freundin für sie wurde.
Dick hatte sein Verhalten