»Nein, aber … ich kam ja nicht dazu, mich mit ihr zu unterhalten, weil Niles sie hinausgeworfen hat.«
»Eine weise Entscheidung. Sie sollten das vergessen, Sarah, und wieder nach London fahren. Hier vergeuden Sie doch nur Ihre Zeit, glauben Sie mir.«
*
Sarah fragte bei den Angestellten herum, doch niemand schien etwas Näheres über ihre seltsame Besucherin zu wissen. Dick Jones hielt es nicht einmal für nötig, ihr zu antworten. Darüber ärgerte sie sich dermaßen, dass sie spontan beschloss, zu bleiben. Die junge Ärztin rief in London in der Klinik an und nahm ihren Jahresurlaub. Ihr Vorgesetzter reagierte überaus verstimmt, aber da Sarah die freien Tage zustanden, konnte er sie nicht daran hindern, sie sofort zu nehmen.
Danach ging sie in die Küche und ließ Annabell wissen, dass sie fürs Erste auf Harper-Island bleiben würde.
Die treue Seele freute sich, aber sie gab auch zu bedenken: »Vielleicht ist doch was dran an dem, was Elsa gesagt hat. Bleib also lieber vom Moor weg, Sarah. Das könnte durchaus gefährlich werden.«
»Kennst du diese Elsa denn? Dr. Lancaster sagte, dass sie am Rand des Moores lebt.«
Die Köchin machte ein missmutiges Gesicht. Man sah ihr an, dass sie nicht gerne über dieses Thema sprach.
»Elsa ist nicht so verkehrt. Die Leute reden schnell, wenn jemand ein bisschen anders ist als die anderen. Sie hält sich ja deshalb auch von den Menschen fern. Früher kam sie öfter nach ›Ivy-House‹. Aber in letzter Zeit …«
»Dann hat sie meinen Bruder vielleicht doch gekannt?«
»Mag sein. Aber ich habe sie öfter bei Dick gesehen. Du solltest mit ihm reden. Wenn jemand etwas über sie weiß, dann er. Ich glaube, die beiden sind sogar verwandt.«
»Dick wird mir nichts sagen. Er ist so verschlossen wie eine Auster. Ich habe schon einige Male versucht, mit ihm zu reden, aber er hat mich immer abblitzen lassen.«
Annabell lachte. »Kindchen, jetzt aber! Du bist eine Londoner Ärztin, stehst deine Frau. Und du bist, solange dein Bruder nicht hier ist, die Herrin von ›Ivy-House‹. Wenn Dick das vergessen haben sollte, dann musst du ihn daran erinnern …«
Die Worte der Köchin machten Sarah Mut. Im Grunde hatte Annabell ja auch recht, denn niemand kannte sich auf dem Besitz so gut aus wie der Verwalter. Und wenn Dick nicht freiwillig mit ihr sprach, dann würde sie eben die Chefin herauskehren und ihn an seine Pflichten erinnern müssen …
Am Nachmittag schickte Sarah Niles zum Verwalterhaus und trug ihm auf, Dick Jones zum Diner ins Haupthaus zu bitten. Sie gab sich freundlich, aber bestimmt, sodass der Butler tat, worum sie ihn gebeten hatte. Fast wunderte Sarah sich dann, das Dick tatsächlich pünktlich auftauchte. Er trug sogar einen Anzug mit Hemd und Krawatte und sah darin sehr manierlich aus.
Sarah bot ihm Platz am Esstisch an und bat Niles dann, das Essen aufzutragen. Zunächst herrschte Schweigen an der Tafel aus poliertem Edelholz. Hinter den bleiverglasten Scheiben des Raums ging die Spätsommersonne in gleißendem Rot unter und tauchte den Kanal in eine fast südländisches Farbensymphonie.
Als der Butler den Kaffee brachte, wollte Dick sich verabschieden, doch Sarah bat ihn, noch zu bleiben. Ehe sie ihm aber eine Frage stellen konnte, richtete er das Wort an sie.
Offenbar hatten Annabell oder Niles ihm den Kopf zurecht gerückt, denn der junge Verwalter gab sich nun ebenso manierlich wie seine Aufmachung war. Sarah spürte, dass ihm das nicht leicht fiel, es entsprach nicht ganz seiner verschlossenen, mürrischen Grundhaltung. Doch er gab sich Mühe, und das wusste sie durchaus zu schätzen.
»Miss Sarah, ich weiß, Sie haben viele Fragen, was ›Ivy-House‹ betrifft. Ich fürchte nur, dass ich nicht die richtige Adresse bin. Ich tue hier nur meine Arbeit, alles andere geht mich nichts an und kümmert mich auch nicht.«
»Vielleicht hören Sie sich erst mal an, was ich wissen will«, schlug sie freundlich vor. »Dann können Sie sich immer noch überlegen, ob Sie mir antworten oder nicht.«
Er nickte nur, sagte aber nichts.
»Dr. Lancaster hat mir erzählt, dass Sie mit meinem Bruder befreundet waren. Stimmt das? Er meinte, Sie beide hätten viel Zeit miteinander verbracht.«
Dick wurde zuerst rot, dann blass. Und er hatte offensichtlich Mühe, nicht die Fassung zu verlieren, als er mit unterdrückter Wut erwiderte: »Was dieser Kerl sagt, ist gelogen. Vermutlich will er dadurch von sich selbst ablenken.«
Sarah war überrascht. »Was meinen Sie damit?«
»Die beiden sind häufig zusammen zum Festland gefahren. Es gab so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen. Master David hat mich immer wie einen Angestellten behandelt, schon als Kind. Das müssen Sie doch wissen. Daran hat sich später auch nichts geändert. Ich denke, dass es da ein dunkles Geheimnis gab, das den Doktor und Ihren Bruder aneinander band. Etwas ist geschehen, aber ich weiß nicht, was.«
»Ein Geheimnis? Was vermuten Sie?«, fragte Sarah aufgeregt.
»Ich weiß es nicht, und ich spekuliere nicht. Aber sie haben sich oft unterhalten, haben auch gestritten. Einmal kam ich dazu, als sie sich im Pferdestall angeschrien haben. Der Doktor sprach von Geld, Ihr Bruder nannte ihn einen Blutsauger. Als sie mich sahen, verstummten sie.«
»Was mag das zu bedeuten haben?«, grübelte Sarah.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass dem Doktor nicht zu trauen ist. Sie sollten nicht auf das hören, was er sagt.«
»Und die verrückte Elsa?«
Dick machte eine unwirsche Geste und forderte hitzig: »Nennen Sie sie nicht so! Sie ist nicht verrückt.« Er senkte den Blick, als er Sarahs ruhigen Augen begegnete und murmelte: »Entschuldigen Sie, Miss Sarah.«
Sie ging nicht darauf ein, bat ihn aber: »Sagen Sie mir, was Sie über diese Elsa wissen. Annabell meinte, dass Sie sie besser kennen. Sie hat mir erzählt, dass Elsa öfter hier gewesen ist.«
»Sie kam manchmal her, wenn ihr Pferd krank war. Ich habe mich dann darum gekümmert.«
»Warum? Sind Sie mit ihr befreundet?«
»Nein, es war einfach eine Gefälligkeit.« Er meinte, sich rechtfertigen zu müssen, und fügte erklärend hinzu: »Ich mag es nicht, wenn jemand ausgegrenzt und schlecht behandelt wird. Elsa ist ein liebes Mädchen ohne Falsch. Sie ist eben anders als die anderen. Und für die meisten Menschen hier auf der Insel ist das schon ein Grund, sie als Verrückte abzustempeln. Elsa ist aber kräuterkundig. Sie stellt Tinkturen und Säfte gegen alle Beschwerden her, die es gibt. Als ich mir mal das Kreuz verrenkt hatte, konnte der Doktor mir nur eine schmerzstillende Spritze geben, die kurz vorgehalten hat. Aber Elsa hatte eine Salbe, die mich wieder auf Vordermann gebracht hat. Deshalb lasse ich auf das Mädchen nichts kommen.«
Sarah hatte ihm aufmerksam zugehört und stellte fest, dass Dick Jones durchaus auch schwärmen konnte. Diese Elsa schien ihm viel zu bedeuten.
»Sie mögen das Mädchen, nicht wahr?«
»Ich hab nur was gegen Ungerechtigkeiten, das ist alles.«
»Und was halten Sie von ihrer Warnung? Denken Sie, es ist was dran an dem, was sie zu mir gesagt hat?«
Der junge Verwalter ließ sich Zeit mit einer Antwort. Und diese fiel dann ganz anders aus, als Sarah es erwartet hätte.
»Wenn Elsa da was gesehen hat im Moor, würde ich das nicht so glatt abtun. Ich glaube nicht an Hexen und Geister. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass im Moor nichts geschehen ist …«
*
In den nun folgenden Tagen kümmerte Sarah sich intensiv um den Nachlass ihrer Großtante. Sie arbeitete alles auf und entdeckte dabei eine ganze Menge Fehlbeträge. Jemand hatte sich hier reichlich bedient. Die junge Ärztin meinte, auf mehreren Schecks die gefälschte Unterschrift von Alice Tumbrill entdeckt zu haben. Es war eine sehr geschickte Fälschung, doch Sarah