»David?« Sie rief nach ihrem Bruder, denn sie war fast sicher, dass er sie suchte, dass seine Stimme ihren Namen gerufen hatte. Kam David, um ihr zu helfen? Plötzlich stieg neue Hoffnung in ihr auf und vertrieb für einen Moment die tiefschwarze Qual.
»David, ich bin hier! Bitte, hilf mir!« Sie lauschte angestrengt und im nächsten Moment meinte Sarah, Schritte zu hören. Tatsächlich, da kam jemand! Es musste ihr Bruder sein, er würde sie retten! Fast euphorisch schrie sie seinen Namen. Doch was ihr antwortete, war nur die Stille. Sie war weiterhin allein, da war niemand, der ihr helfen, sie retten konnte.
Und dann geschah etwas, das Sarah an ihrem Verstand zweifeln ließ. Sie steckte nun bis zum Kinn im Morast. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis sie endgültig im Moor versank. Sie hatte es aufgegeben, sich gegen ihr grausames Schicksal zu wehren, denn durch jede Bewegung sackte sie nur schneller hinab.
Dann spürte sie plötzlich, wie sich eine Hand um ihren Fußknöchel legte. Sie packte entschlossen zu, war hart und unbarmherzig wie eine eiserne Klaue. Sarah öffnete den Mund weit, sie kam aber nicht einmal mehr dazu, einen Schrei auszustoßen, denn im nächsten Moment zog die Hand sie hinab.
Genau in diesem Augenblick erwachte Sarah. Sie riss die Augen weit auf, setzte sich im Bett auf und starrte in die wattige Düsternis der späten Nacht. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie, David sitze auf der Bettkante und schaue sie an. Doch als sie das Licht anknipste, war sie allein.
*
Am nächsten Tag schien die Sonne von einem tiefblauen Himmel. Sarah stand zeitig auf, den Albtraum der vergangenen Nacht verdrängte sie, auch wenn die schrecklichen Bilder und Empfindungen ihr noch nachgingen. Sie konnte nicht begreifen, woher diese kamen. Aus ihrem Unterbewusstsein vielleicht? Die junge Ärztin hatte sich immer für einen ausgeglichenen und realistischen Menschen gehalten. Woher also sonst? Sarah fand keine logische Erklärung. Das schlechte Gefühl in ihrer Magengegend aber wollte nicht weichen und sorgte dafür, dass sie beim Frühstück kaum etwas herunterbrachte.
Die junge Ärztin ging in die Küche, um zu frühstücken. Allein im Esszimmer zu sitzen, erschien ihr einfach zu bedrückend. Annabell trieb ihre Küchenmädchen an, sich zu beeilen. Sie setzte sich kurz zu Sarah und erklärte: »Wir wollen nach der Beerdigung einen kleinen Imbiss reichen, das ist ja so Tradition. Und wenn man sie nicht ständig auf Trab hält, wird das alles nie rechtzeitig fertig. Dumme Gänse.« Sie warf den beiden einen unwirschen Blick zu, als sie verhalten kicherten. »Kein Anstand, wissen nicht, was sich gehört, so was …«
»Sei nicht zu streng zu ihnen, Annabell«, bat Sarah begütigend. »Sie meinen es bestimmt nicht böse, sie haben nur nicht nachgedacht.«
»Ja, das tun sie nie«, knurrte die alte Köchin und seufzte. »Ach, Kindchen, es ist ein schwarzer Tag heut. Harper-Island verliert so viel mit der Missis. Nichts wird mehr so sein wie früher, gar nichts.«
Sarah nickte nur, ihr war es ebenso schwer um Herz. Das änderte sich den ganzen Tag über nicht. Die Beerdigung erschien der jungen Ärztin wie ein schlechter Traum. Dr. Lancaster gab sich ihr gegenüber sehr nett und fürsorglich, aber nie aufdringlich. Sie war ihm dankbar, denn allein hätte sie dieses traurige Ereignis kaum durchstehen können. Und ihr Bruder zog es ja vor, gar nicht erst zu erscheinen.
Nach dem Leichenschmaus verabschiedete der Landarzt sich bald. Sarah begleitete ihn noch zum Bootssteg und dankte ihm.
»Nicht der Rede wert«, wiegelte er bescheiden ab. »Sie sehen sehr mitgenommen aus. Ruhen Sie sich aus. Wenn ich morgen meine Hausbesuche hinter mich gebracht habe, schaue ich nach Ihnen. Natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist.«
»Ich würde mich freuen, nochmals danke für alles.« Sie wandte sich ab, als er sein Boot Richtung Festland lenkte. Es war mittlerweile dunkel geworden, eine frische Brise wehte vom Kanal her und ließ Sarah frösteln.
Rasch machte sie sich auf den Rückweg zum Haus. Als ihr unvermittelt jemand den Weg vertrat, schrak sie heftig zusammen. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie Dick Jones.
»Ich bringe Sie zum Haus«, erklärte er brummig. »In der Dunkelheit verläuft man sich hier leicht.«
Sie sagte nichts, folgte ihm nur. Sarah war froh, dass sie den Weg nach ›Ivy-House‹ nicht allein zurücklegen musste, obwohl sie sich eine freundlichere Begleitung gewünscht hätte.
»Dr. Lancaster kommt jetzt wohl nicht mehr her«, sagte Dick nach einer Weile unvermittelt.
Sarah warf ihm einen überraschten Blick zu. »Wie kommen Sie auf den Gedanken, Dick? Er ist doch dem Haus und seinen Bewohnern nach wie vor verbunden.«
Der Verwalter lachte kurz auf, es klang fast wie ein Bellen.
»Sind Sie anderer Meinung?«
Er hob die breiten Schultern und knurrte: »Ist doch egal.«
»Nun warten Sie mal, Dick. Wir kennen uns doch schon lange. Als ich mit meinem Bruder zu dem Tumbrills kam, da lebten Sie mit ihrem Vater im Verwalterhaus. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Sie waren sozusagen mein Kleinmädchenschwarm. Leider haben Sie mich nie beachtet. Aber jetzt sind wir beide erwachsen und sollten uns auch so verhalten. Wenn Sie mir also etwas zu sagen haben, tun Sie es bitte. Sie wissen, ich war lange nicht hier und kenne die momentanen Verhältnisse in ›Ivy-House‹ nicht so gut wie Sie. Also …«
Sie hatten ihr Ziel fast erreicht. Dick Jones blieb stehen und erwiderte: »Es ist nicht meine Art, mich einzumischen. Aber ich kann Sie nur davor warnen, dem Doktor zu vertrauen.« Damit stopfte er seine Hände in die Hosentaschen und stapfte Richtung Verwalterhaus davon.
Sarah seufzte bekümmert auf. Dick Jones hatte ein seltenes Talent, sie mit schwerwiegenden Andeutungen völlig im Unklaren zu lassen. Sie wusste nun so viel wie vorher, doch sie verspürte ein beklemmendes Gefühl der Unsicherheit, das seine Worte noch verstärkt hatten. Warum sagte er ihr nicht, was er wusste? Vertraute er ihr nicht? Oder gab es andere Gründe für sein Schweigen? Sarah beschloss, dies herauszufinden. Sie wollte endlich wissen, was auf ›Ivy-House‹ vor sich ging!
*
In dieser Nacht schlief Sarah ruhig und traumlos. Sie erwachte allerdings sehr früh. Es war noch nicht hell, nur über dem Kanal lag ein erster Schimmer von Purpur, der den neuen Tag ankündigte. Eine schwer zu beschreibende Unruhe hatte von der jungen Frau Besitz ergriffen und verhinderte, dass sie sich wieder entspannen und einschlafen konnte.
Sarah stand auf und öffnete die Fenstertür, um auf den schmalen Balkon zu treten. Die Luft war feucht und kühl, sie roch nach Salz, Erde, den formierten Eiben und den Blättern des Buchsbaums, der im Parterre die Beete einrahmte. Es war ein leicht modriger Geruch, der Sarah an Friedhöfe und Totenhäuser erinnerte und nicht eben angenehm war. Die junge Ärztin schloss die Fenstertür wieder und kehrte ins Bett zurück. Sie war leicht eingedöst, als sie etwas hörte. Ein leises Rufen, so als komme es von weit fort. Aber es war eindeutig eine menschliche Stimme. Die Stimme eines Mannes. Und sie rief ihre Namen!
Diese Erkenntnis sorgte dafür, dass Sarah auf einen Schlag hellwach war. Sie knipste das Licht an und setzte sich auf. Eine Weile lauschte sie mit unruhig klopfendem Herzen. Nichts, das Rufen war nicht mehr zu hören. Hatte sie sich getäuscht?
Sie wollte es genauer wissen, stand noch einmal auf und trat auf den Balkon. Wieder lauschte sie. Die Brandung, der leise Wind, ein Rascheln in den Bäumen. Der Schrei einer Eule. Sonst blieb es völlig still. Sarah wollte wieder ins Bett, als sie aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahrnahm.
Sie zuckte zurück, drehte den Kopf und dann hörte sie auch etwas. Ein leises Knirschen. Jemand kam über den Kies, der die Wege im Parterre bedeckte. Sarah starrte unverwandt nach unten, es dauerte aber ein paar Augenblicke, bis sie etwas erkennen konnte. Und was sie dann sah, erschien ihr rätselhaft.
Es war eindeutig Dick Jones, der aus dem Park zurück zum Haus kam. Über seinem rechten Arm hing eine entsicherte Jagdflinte. Woher kam er zu dieser frühen Stunde? Er hatte kein Wild dabei, war also anscheinend nicht auf der Jagd gewesen. Aber wozu dann das Gewehr? Sarah konnte sich darauf keinen Reim machen. Aber sie wollte nun