Wie war er hierher gelangt? Er dachte daran, dass er sich stets vorsichtig bewegt und ständig neu orientiert hatte. Im Grunde war es unmöglich, dass er ein Opfer des schwimmenden Landes geworden war. Und doch konnte es keinen Zweifel geben. Die feuchte Kälte, die ihn bis zur Brust einhüllte. Und die Leere unter seinen Füßen, die keinerlei Halt finden konnten …
Ein zittriger Seufzer entrang sich seiner Brust. Sollte es so enden? Hatte er denn einen dermaßen schweren Fehler begangen, als er sich selbst überschätzt hatte? Oder war sein Verhängnis vielmehr, dass er den anderen unterschätzt hatte?
»Hilfe!« Seine Stimme war kaum zwei Meter weit zu hören. Er klapperte mit den Zähnen, fühlte eine eisige Lähmung, die nach und nach von seinem ganzen Körper Besitz ergriff. Es konnte keine Rettung geben, das ahnte er. Zu tief steckte er bereits im Morast. Und es war niemand in der Nähe, der ihm hätte helfen können. Sein Mörder hatte gewiss längst das Weite gesucht.
Noch einmal versuchte er es, wider besseres Wissen: »Hilfe!« Schon etwas kräftiger gellte sein Schrei über das vom Mond beschienene Moor. Und doch war es sinnlos. Denn in der näheren Umgebung stand kein Haus, hier lebte niemand. Außer vielleicht … Er dachte an die Moorbewohnerin, die manchmal hier herum schlich und ihn womöglich gehört hatte. Kurz stieg neue Hoffnung in ihm auf und er schrie noch einmal aus Leibeskräften um Hilfe.
»Bemüh dich nicht, es ist sinnlos.« Die Stimme kam ganz aus der Nähe. Gleich darauf flammte ein Licht auf und blendete den Mann. Er kniff die Augen zu, doch er wusste auch so, wer ihn angesprochen hatte.
»Du bist noch hier? Ich dachte, du wärst zufrieden, nachdem du mich beseitigt hast. Und den Rest wird das Moor erledigen, habe ich recht?« Er lachte trocken auf. Nun blieb ihm nichts weiter als Galgenhumor, denn sein Gegner hatte ihn nicht nur in diese ausweglose Lage gebracht, er würde auch keine Gnade kennen, das ahnte er. Er wusste aber nicht einmal annähernd, wozu der andere fähig war. Allerdings sollte er es sogleich erfahren.
»Wo bleibt denn da der Spaß? Jemanden ins Moor zu werfen, das hat wirklich keinen Stil. Deshalb habe ich mir für dich etwas Besonderes ausgedacht.«
Er schwieg, denn er wollte dem anderen, der sich an seiner Verzweiflung weidete, keinen Gefallen tun.
»Du sagst nichts? Na gut, dann möchte ich dir jetzt eine Freundin von mir vorstellen. Sie hat schon auf dich gewartet. Und sie freut sich sehr, dass du ihr von nun an Gesellschaft leisten wirst …«
Die Taschenlampe erlosch. Während der Gefangene des Moores sich noch fragte, was sein Gegner damit meinte, hob der einen Arm an und stieß einen gutturalen Schrei aus. Er hielt etwas in der Hand, das plötzlich anfing zu glühen. Es sah ein wenig wie ein keltisches Kreuz aus, doch es schien auf dem Kopf zu stehen. Das Metall, aus dem es geschmiedet war, glühte rotgolden.
Der Gefangene vergaß für eine Weile seine eigene prekäre Lage, als sich ihm ein seltsames, unheimliches Schauspiel bot. Das rotgoldene Glühen, das von dem Kreuz ausging, verstärkte sich und schob sich, einer nebligen Wolke gleich, auf ihn zu. Es erhellte das Moorloch, in dem er steckte, es versank gleichsam darin und erzeugte eine unnatürliche Wärme, die stetig zunahm. Das Moor fing an zu brodeln, es wurde so heiß, dass es fast kochte. Der Mann schrie, doch seine verzweifelten Schreie gingen in dem irren Gelächter dessen unter, der auf festem Boden stand und noch immer das Kreuz in der Hand hielt.
Dann erfüllte ein dumpfes Rumoren die Umgebung. Es schien seinen Ursprung tief in der Erde zu haben und es wurde immer lauter. Etwas kam. Der Mann spürte es deutlich. Ein Zittern und Rütteln ging durch seinen Körper.
Im nächsten Moment erhob sich ganz in seiner Nähe eine Gestalt aus dem Moor. Er starrte wie paralysiert darauf, ohne begreifen zu können, dass dies wirklich geschah.
Es war die Gestalt einer Frau. Sie war so dunkel wie das Moor, schien ein Teil davon zu sein und zugleich etwas gänzlich Unnatürliches, das so eigentlich nicht existieren dürfte.
Es dauerte nur einen Moment, dann trat sie auf das feste Land und blieb dort reglos stehen.
Das Kreuz leuchtete nur noch schwach, trotzdem war sie nun deutlich zu erkennen. Sie war noch jung, hatte langes, dunkles Haar und trug ein einfaches, leinernes Gewand. Ihre Füße waren nackt. Ihr Gesicht aber verschwamm, es war nicht fest, hatte keine wirklichen Konturen. Nur in den Augen gloste ein Feuer, das dem Leuchten des umgedrehten Kreuzes ähnlich war.
»Du hast mich gerufen, Meister. Was willst du?«, fragte sie mit dumpfer, ausdrucksloser Stimme. Sie stand da wie eine lebensgroße Puppe, wie eine Marionette. Und der neben ihr stand, schien die unsichtbaren Fäden zu ziehen.
»Ich bringe dir ein Opfer. Du sollst diesen Unwürdigen mitnehmen, er verdient es nicht, geschont zu werden, denn er hat sich gegen mich gewandt, er ist mein Feind.«
»Deine Feinde müssen vernichtet werden. Ich diene dir und erfülle deinen Willen«, antwortete die Gestalt.
»Gut, dann nimm ihn mit dir. Ich will ihn nie wieder sehen. Er soll für alle Zeiten in seinem feuchten Grab gefangen sein.«
Die Gestalt nickte und setzte sich wieder in Bewegung. Obwohl es aussah, als ginge sie, schwebte sie doch, ihre Füße berührten den Boden nicht.
Der Gefangene im Moor sah, wie sie auf ihn zukam. Eisige Kälte wehte ihn an. Und die Gewissheit, dass es keine Gnade geben konnte. Er war verloren.
»Nein!« Sein Schrei gellte über das Moor, ausgestoßen in höchster Panik und Todesangst. Die Gestalt zögerte nicht, sie kannte kein Mitleid. Und ihr Meister lachte, als er sah, dass sie seinen Befehl ausführte.
»So soll es jedem ergehen, der sich gegen mich stellt«, geiferte er. »Ich habe die Macht, ich bin unbesiegbar!«
Das Letzte, was der Gefangene im Moor hörte, war das irre Triumphgeschrei seines Gegners. Dann legten sich die kalten Arme der Gestalt fest um ihn und zogen ihn mit sich hinab.
Das Moorloch schloss sich gurgelnd über seinem Opfer, seine Oberfläche wurde wieder ruhig und glatt. Wie ein totes Auge glotzte es in den klaren Nachthimmel. Stumm und schwarz stand die tote Mooreiche daneben. Stille senkte sich über die karge Landschaft auf Harper-Island. Niemand ahnte, welches Drama sich gerade eben hier abgespielt hatte. Der einzige Zeuge verließ den Ort des Geschehens mit raschem Schritt und in der Gewissheit, dass seine Pläne und Absichten sich schon sehr bald erfüllen würden. Er blieb im Verborgenen, die Schatten der Nacht verfüllten seine Identität. Kein Mensch würde ihn verdächtigen, denn es gab keine Beweise. Die hatte das Moor verschlungen.
*
»Sarah, kommst du mit? Wir gehen noch auf einen Absacker ins Chill-Out.«
Dr. Sarah Blake blickte von dem Monitor ihres Computers in das Gesicht ihrer Kollegin. Die junge Anästhesistin Dr. Rita Tushingham lächelte ihr aufmunternd zu. »Nun komm schon, für heute hast du genug getan. Man sollte sein Leben nicht mit Doppelschichten verplempern. Da draußen wartet noch eine Welt auf dich, Liebes.«
Sarah seufzte leise. Die junge Assistenzärztin mit dem glänzenden, dunklen Haar und den klaren grauen Augen war eigentlich nicht in Stimmung, um auszugehen. Aber das war sie schon seit Wochen nicht mehr. Und es fühlte sich einfach falsch an, ihre Freunde ständig zu vertrösten. »Okay, ich komme«, stimmte sie deshalb zu.
»Prima. Das wird dir gut tun, glaub mir.«
»Ich hoffe, du hast recht«, murmelte sie bekümmert, schaltete ihren Computer aus und verließ dann zusammen mit der Freundin und Kollegin das Ärztezimmer auf ihrer Station.
Die beiden jungen Medizinerinnen arbeiteten im Londoner St. Mary Hospital in Hackney, nördlich der Themse. Sie waren schon zu Studienzeiten befreundet gewesen und sahen es als echten Glücksfall an, dass sie nun auch an der gleichen Klinik eine Stelle gefunden hatten. Rita war in London geboren und aufgewachsen, Sarah stammte nicht aus der Weltstadt und hatte sich zu Beginn ihrer Ausbildung ein wenig verloren gefühlt.
Doch