„Setz dich!“ befahl der Graf ihr. „Ich möchte sehen, wie es dir schmeckt. Und bevor wir beginnen, möchte ich klarstellen, daß du alles mitnehmen kannst, was übrig bleibt.“
Er sah, wie Giselda sich versteifte. Dann sagte sie: „Sie beschämen mich, Mylord. Ich hatte nicht betteln wollen, als ich Ihnen diese Geschichte erzählte.“
„Ich hatte schon daran gedacht, bevor du mir alles erzählt hast“, beschwichtigte sie der Graf. „Und nun, mein Kind, iß und hör endlich auf, dich um jede Kleinigkeit mit mir zu streiten. Es gibt nichts, was mich mehr aufregt, als wenn jemand über jeden Vorschlag, den ich mache, argumentieren muß.“
Als Giselda sich setzte, huschte ein ganz kleines Lächeln über ihre Lippen.
„Es tut mir leid... Mylord... ich bin Ihnen sehr dankbar.“ „Dann zeig es auch, indem du endlich etwas von den Speisen in dich hineinstopfst.“
Sie mußte wieder lächeln.
Sie nahm sich ein Stück von der Zunge und wartete dann, daß der Graf sich mit den verschiedenen Saucen bediente.
Wenn der Graf sich darauf gefreut hatte, zu beobachten, wie ein hungriger Mensch sich für Wochen der Entbehrung entschädigen würde und mit großem Appetit große Mengen verschlingen würde, so wurde er jetzt stark enttäuscht.
Giselda aß sehr langsam und wählte alles sehr sorgfältig aus. Lange bevor der Graf gesättigt war, konnte sie schon nichts mehr essen.
Der Graf überredete sie zu einem Gläschen Rotwein, von dem sie jedoch nur einige wenige Schlucke zu sich nahm.
„Ich bin es aber nicht gewohnt, Wein zu trinken“, sagte sie entschuldigend. „Aber jetzt, mit dem vielen Geld, das ich verdienen werde, wird es uns sicher sehr viel besser gehen.“
„Nun, sehr weit wird es auch nicht reichen“, erwiderte der Graf. „Man hat mir erzählt, daß die Preise doch erheblich gestiegen sind.“
„Das ist wahr, aber wir werden schon ... auskommen.“
„Hast du schon immer in Cheltenham gelebt?“
„Nein.“
„Wo hast du denn vorher gelebt?“
„In einer kleinen Ortschaft in ... Worcestershire.“
„Und warum seid ihr hier hergekommen?“
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann sagte Giselda: „Wenn Eure Lordschaft mich entschuldigen wollen, würde ich jetzt gerne nach Hause gehen, um die Salbe für Ihr Bein zu holen. Ich bin nicht sicher, ob meine Mutter genügend vorrätig hat. Sie müßte sonst noch neue anrühren, und das kostet Zeit. Ich möchte nicht, daß Sie heute Nacht ohne sind.“
Der Graf sah sie an.
„In anderen Worten, du willst meine Frage nicht beantworten.“
„Nein ... Mylord.“
„Warum nicht?“
„Ich möchte nicht, daß Eure Lordschaft mich für unverschämt halten. Aber ich betrachte mein Zuhause als meine Privatangelegenheit.“
„Warum?“
„Aus Gründen... über die ich nicht sprechen kann, Mylord.“
Als ihre Blicke sich trafen, schien es, als würde ein Kampf zwischen beider Willen stattfinden. Dann sagte der Graf in gereiztem Tonfall: „Warum zum Teufel mußt du so geheimnisvoll und rätselhaft sein? Ich interessiere mich für dich. Und der Himmel weiß, daß es nicht viel gibt, wofür ich mich im Augenblick interessieren kann, außer ständig an mein krankes Bein zu denken.“
„Es... tut mir leid, wenn ich... Eure Lordschaft ... enttäuscht habe.“
„Aber du hast trotzdem nicht die Absicht, meine Neugierde zu befriedigen?“
„Nein ... Mylord.“
Der Graf war, ob er wollte oder nicht, amüsiert. Es war fast unvorstellbar, daß diese kleine, knochige und hohlwangige Person sich ihm widersetzte, obwohl sie wissen mußte, daß er es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihr Wohltäter zu sein.
Im Augenblick hatte er keine Lust, weiter mit ihr zu argumentieren. Daher sagte er nur: „Nun gut, wie du willst. Jetzt pack alles ein, was du willst. Und komm nicht so spät wieder, sonst muß ich annehmen, daß du mit meinem Geld über alle Berge bist.“
„Mylord sollten wissen, daß es ein Fehler ist, im Voraus zu bezahlen.“
Obwohl ihn ihre Antwort sehr überraschte, mußte er doch lächeln.
Sie packte das kalte Fleisch sorgfältig in Papier ein und nahm das Paket in beide Hände.
„Ich danke Ihnen, Mylord“, sagte sie mit weicher Stimme.
Dann, als würde sie sich ihrer Pflichten besinnen, fügte sie hinzu: „Sie sollten heute Nachmittag ruhen. Wenn möglich, sollten Sie ein wenig schlafen.“
„Ist das ein Befehl?“
„Selbstverständlich! Sie haben mich zu Ihrer Krankenpflegerin gemacht. Und in dieser Position ist es meine Pflicht, Eurer Lordschaft zu sagen, was gut für Sie ist. Auch wenn Sie es ablehnen sollten.“
„Glaubst du denn, daß ich das tun würde?“
„Ich bin der Überzeugung, daß es unmöglich ist, Sie zu zwingen, etwas zu tun, was Sie nicht wollen. Daher appelliere ich an die Vernunft Eurer Lordschaft.“
„Das ist sehr vernünftig, Giselda“, sagte der Graf. „Aber du weißt so gut wie ich, daß die Mäuse auf dem Tisch tanzen, wenn die Katze nicht daheim ist. Wenn du also wirklich um mich besorgt bist, solltest du mich nicht zu lange warten lassen.“
„Ich werde kommen, sowie ich die Salbe habe, Mylord.“
Giselda knickste graziös und verließ dann den Raum. Während der Graf ihr nachsah, leerte er sein Glas, ohne es recht zu bemerken. Er war tief in Gedanken.
Es war das erste Mal in seinem Leben, daß ihn ein anderer Mensch interessierte.
Er, ein aktiver Mann, der in den letzten zehn Jahren entweder auf dem Schlachtfeld oder auf dem Gebiet des Sportes tätig gewesen war, empfand seine Krankheit, die ihn zum Nichtstun verurteilte, als unerträglich. Er kämpfte mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft dagegen an.
Es gab keinen Grund für ihn, allein zu sein. In Cheltenham wimmelte es von Menschen, die sich seiner Stellung in der Gesellschaft bewußt waren und die ihn gerne besucht hätten oder ihn in ihren Häusern bewirten würden.
Aber es lag nicht nur am körperlichen Zustand des Grafen. Er war auch in ausgesprochen schlechter Stimmung. Sein Leben lang war er ein gesunder Mensch gewesen. Jetzt litt er stark darunter, als Invalide im Bett zu liegen.
Er hatte sich eingeredet, daß Gesellschaft ihn langweilen würde. Ganz speziell eine Gesellschaft, in der er zur Zeit nicht einmal die Freuden genießen konnte, die schöne Frauen ihm sonst bereitet hatten.
Genau wie der Duke of Wellington genoß auch er gerne die Gesellschaft attraktiver und kluger Frauen, besonders solcher, mit denen man offen und frei sprechen konnte, so wie es in der Beau Monde nicht möglich war.
Seine Liebesaffären reichten von den Sängerinnen der Drury Lane bis hin zu den Schönheiten von St. James. Es fiel den Frauen schwer, ihm irgendeinen Wunsch abzuschlagen. Er war nicht nur von sehr nobler Geburt und auch außergewöhnlich reich, er besaß auch eine undefinierbare Ausstrahlung, die auf Frauen unwiderstehlich wirkte.
Sie alle verloren nicht nur ihren Kopf sondern auch ihr Herz. Er jedoch behandelte sie mit eigenartiger Gleichgültigkeit. Wahrscheinlich lag es daran, daß der Graf ganz einfach Frauen nicht ernst nahm.
Erst vor kurzer Zeit hatte ihm eine dieser Frauen vorgeworfen: „Du behandelst mich wie ein Spielzeug. Als sei ich einzig und allein dazu da, dir Vergnügen zu bereiten.“