»Es wäre weit richtiger, sie alle unter Schloß und Riegel zu haben! England muß aufgerüttelt werden! Die verdammte Bourgeoisie dieses Landes macht sich zum Mitschuldigen eben der Leute, deren Ziel es ist, die Bourgeoisie aus ihren Häusern zu treiben und in der Gosse verhungern zu lassen. Und dabei hätten sie die politischen Machtmittel noch, wenn sie nur die Einsicht hätten, zu ihrer eigenen Erhaltung davon Gebrauch zu machen. Ich hoffe, Sie geben zu, daß die Mittelschichten verdummt sind?«
Herr Verloc bejahte krächzend:
»Sie sind es!«
»Sie haben keine Vorstellungskraft. Sie sind von törichter Eitelkeit verblendet. Jetzt brauchen sie einmal einen tüchtigen Schrecken; das ist der richtige Augenblick, Ihre Freunde ans Werk zu setzen! Ich habe Sie herrufen lassen, um Ihnen meine Ansicht darzulegen.«
Und Herr Vladimir entwickelte seine Ansicht ganz von oben herab, mit verächtlicher Leutseligkeit, und zeigte dabei zugleich eine derartige Unwissenheit über die wahren Ziele, Gedanken und Wege der Revolutionswelt, daß er den schweigsamen Verloc zu innerst verblüffte. Er verwechselte Ursachen und Wirkungen in nicht mehr entschuldbarem Maße, die ausgezeichnetsten Propagandaredner mit einfachen Bombenwerfern, nahm eine Organisation an, wo sie nach Lage der Dinge unmöglich bestehen konnte, sprach von der sozialrevolutionären Partei in einem Augenblick als von einer ganz durchgebildeten Armee, wo das Wort des Führers letztes Gesetz war, und im nächsten wieder wie von einer losen Zusammenrottung verzweifelter Räuber, wie sie nur je in einer Bergschlucht hauste. Einmal hatte Herr Verloc den Mund geöffnet, doch eine Bewegung einer weißen, wohlgeformten Hand hatte ihm Schweigen geboten. Bald war er auch zu verblüfft, um an Widerspruch denken zu können. Er lauschte in starrem Entsetzen, das nach außen hin wie reglose Aufmerksamkeit wirkte.
»Eine Reihe von Anschlägen«, fuhr Herr Vladimir ruhig fort, »hier in diesem Lande; aber nicht nur hier geplant – das genügt nicht – sie würden es nicht achten. Ihre Freunde könnten das halbe Festland in Brand setzen, ohne die öffentliche Meinung hierzulande zugunsten eines allgemeinen Unterdrückungsgesetzes beeinflußen zu können. Die Leute hierzulande sehen über ihre Gärtchen nicht hinaus.«
Herr Verloc räusperte sich, fand aber nicht den Mut und sagte nichts.
»Diese Anschläge brauchen nicht sonderlich blutig zu sein,« erläuterte Herr Vladimir, als hielte er eine wissenschaftliche Vorlesung, »aber sie müssen erschreckend, genügend wirksam sein. Lassen Sie sie zum Beispiel gegen Gebäude gerichtet sein! Was ist denn heutzutage der Fetisch, vor dem sich die ganze Bourgeoisie beugt – nun, Herr Verloc?«
Herr Verloc öffnete seine Hände und zuckte leicht die Schultern.
»Sie sind zu faul zum Nachdenken«, bemerkte Herr Vladimir zu dieser Gebärde. »Achten Sie darauf, was ich sage: heutzutage ist der Fetisch weder das Herrschertum, noch die Religion. Darum müssen der Palast und die Kirche in Ruhe gelassen werden. Sie verstehen, was ich meine, Herr Verloc?«
Der Kummer und die Spottsucht Verlocs machten sich in dem Versuch eines Scherzes Luft.
»Gewiß; aber wie ist’s mit den Gesandtschaften? Mehrere Anschläge auf die Gesandtschaften«, begann er, konnte aber dem kalten, scharfen Blick des Ersten Sekretärs nicht standhalten.
»Sie können auch witzig sein, wie ich sehe«, warf dieser hin. »Das ist ganz recht. Das wird vielleicht Ihre Rede in sozialistischen Versammlungen würzen. Hier aber ist nicht der Ort dafür. Es wäre Ihnen unendlich viel zuträglicher, aufmerksam dem zu folgen, was ich Ihnen sage. Da es Ihre Aufgabe sein wird, Taten zu liefern anstatt Ammenmärchen, so sollten Sie lieber Vorteil aus dem zu ziehen trachten, was ich mir die Mühe nehme, Ihnen auseinanderzusetzen. Der allerheiligste Fetisch dieser Zeit ist die Wissenschaft. Warum bringen Sie nicht einige Ihrer Freunde dazu, diesem hölzernen Götzenbild zu Leibe zu gehen? Wie? Muß nicht ein gut Teil dieser Einrichtungen weggefegt werden, bevor das Reich der Z. P. anhebt?«
Herr Verloc sagte nichts. Er fürchtete sich, die Lippen aufzutun, um nicht stöhnen zu müssen.
»Das sollten Sie versuchen; ein Anschlag gegen ein gekröntes Haupt oder einen Präsidenten macht ja ein gewisses Aufsehen, aber doch nicht mehr so wie einst. Das gehört heute schon zum Begriff eines Staatsoberhauptes. Es ist fast herkömmlich, besonders seitdem so viele Präsidenten umgebracht worden sind. Nun nehmen wir einmal einen Anschlag, sagen wir, auf eine Kirche! Schrecklich genug im ersten Augenblick, gewiß, und doch nicht so, wie ein Durchschnittsmensch glauben möchte. Sei er noch so revolutionär und anarchistisch gemeint, so wird es doch mehr als einen Narren geben, der in dieser Tat eine religiöse Kundgebung sehen wird, und das würde dem Anschlag die besonders aufrüttelnde Wirkung nehmen, die wir wünschen. Ein Mordüberfall auf ein Restaurant oder Theater wäre in gleicher Weise der Mißdeutung ins Unpolitische ausgesetzt; die Verzweiflung eines Hungernden, eine Tat sozialer Rachsucht, – all dies ist verbraucht. Als Lehrbeispiel für revolutionären Anarchismus kommt es nicht mehr in Betracht. Jede Tageszeitung hat fertig geprägte Phrasen, um solche Kundgebungen zu verreden. Ich entwickle Ihnen hier eine Philosophie des Bombenwerfens von meinem Gesichtspunkt aus, von dem Gesichtspunkt also, dem Sie während der letzten elf Jahre gedient zu haben behaupten. Ich will versuchen, nicht über Ihren Kopf weg zu reden. Die Empfindlichkeit der Klasse, die Sie angreifen, stumpft sich rasch ab. Eigentum scheint ihnen unzerstörbar; Sie können bei ihnen weder auf Mitleid noch auf Furcht recht lange rechnen. Ein Bombenanschlag, der heutzutage auf die öffentliche Meinung richtig wirken soll, muß über den Begriff Rache oder Terrorismus hinausgehen. Er muß einfach zerstörend sein. Das und nur das muß er sein, ohne den leisesten Einschlag irgend eines anderen Beweggrundes. Ihr Anarchisten dürftet keinen Zweifel daran lassen, daß ihr fest entschlossen seid, den ganzen gesellschaftlichen Aufbau glatt wegzufegen. Wie aber könnte man diese ungewöhnlich widersinnige Absicht den Köpfen der Mittelschicht begreiflich machen, sodaß kein Zweifel mehr möglich ist? Das ist die Frage. – Die Antwort: indem ihr den Stoß gegen etwas richtet, was außerhalb der alltäglichen Leidenschaften der Menschheit liegt. Natürlich gibt es auch noch die Kunst. Eine Bombe in der Nationalgalerie würde einigen Lärm machen. Es wäre aber nicht ernst genug. Kunst war nie ihr Fetisch. Es ist, wie wenn man einem Mann in seinem Hause ein paar Hinterfenster einschlagen wollte. Um ihn aber wirklich zum Aufstehn zu bringen, müßte man ihm doch mindestens das Dach abdecken. Natürlich gäbe es ein wenig Geschrei, aber von wem? Von Künstlern, Kunstkritikern und dergleichen, von Leuten ohne Bedeutung. Niemand achtet darauf, was sie sagen. Aber da ist nun die Bildung, die Wissenschaft. Jeder Dummkopf, der es zu einem Einkommen gebracht hat, glaubt daran, er weiß nicht warum, aber er glaubt an ihre Bedeutung. Das ist der allerheiligste Fetisch. Alle die verdammten Professoren sind im Herzen unnachgiebig; machen Sie ihnen zu wissen, daß ihr großer Götze auch weg muß, um der Zukunft des Proletariats Platz zu machen. Ein Geheul aller dieser Idioten wird fraglos die Arbeiten der Mailänder Konferenz fördern. Sie werden in die Zeitungen schreiben, ihre Entrüstung wird über jeden Verdacht erhaben sein, da keine materiellen Interessen im Spiele sind, und die ganze Selbstsucht der Klasse, auf die es ankommt, wird wachgerufen werden. Sie glauben daran, daß in irgendeiner geheimnisvollen Weise die Wissenschaft die Quelle ihres Wohlstandes ist. Das tun sie. Und die hirnverbrannte Grausamkeit eines solchen Anschlags wird sie tiefer packen, als die Niederlegung einer ganzen Straße oder eines Theaters voll von ihresgleichen. Zu einem Ereignis der letzten Art werden sie immer sagen können: ›Oh, es ist ein blanker Klassenhaß!‹ Was aber sollte man zu einem Ausbruch von Zerstörungswut sagen, der unverständlich, unerklärlich, undenkbar, tatsächlich verrückt ist? Irrsinn allein ist wahrhaft erschreckend, da er sich weder durch Drohung, Überredung, noch Bestechung besänftigen läßt. Überdies bin ich ja ein gesitteter Mensch, es könnte mir nie einfallen, Ihnen zu der Veranstaltung einer Metzelei zuzureden, auch wenn ich die besten Ergebnisse davon erwarten könnte. Von einer Metzelei könnte ich aber gar nicht das erwarten, was ich brauche. Mord ist uns vertraut, er ist sozusagen eine feststehende Einrichtung. Die Kundgebung muß sich gegen die Bildung, gegen die Wissenschaft richten, aber auch nicht gegen jede beliebige Wissenschaft. Der Angriff muß all die empörende Sinnlosigkeit einer willkürlichen Gotteslästerung haben. Da Bomben zu Ihren Ausdrucksmitteln gehören, so wäre es tatsächlich vielsagend,